Literatur-Tipps 2023 (und auch die von früher)

Moshin Hamid, Der letzte weiße Mann (Dumont): „Eines Morgens wachte Anders, ein weißer Mann, auf und stellte fest, dass seine Haut sich unleugbar tiefbraun gefärbt hatte.“ So lautet der erste Satz in dieser Novelle und mündet 150 Seiten später in nicht weniger als einer literarischen Sensation. Denn nicht nur die Hautfarbe des Protagonisten hat sich über Nacht verändert, sondern seine ganze Welt. Als PoC wird er schlagartig anders wahrgenommen als früher und erfährt grassierende Ressentiments plötzlich am eigenen Leib. Seine gute Freundin und gelegentliche Geliebte Oona reagiert anfangs verstört und sein Chef sagt: „Ich hätte mich umgebracht. Wenn ich du wäre.“
Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt ein derart entlarvendes, bewegendes und vor allem mutiges Buch gelesen habe. Mutig deswegen, weil der Autor es nicht bei einer einzelnen – ganz bewusst an Kafka angelehnten – Verwandlung belässt, sondern diesen Plot auf die komplette Gesellschaft ausdehnt: Nach und nach werden immer mehr Menschen dunkelhäutig, die weiße Mehrheit im Land fühlt sich bedroht und schon bald herrschen Chaos und nackte Gewalt. Moshin Hamid gelingt der Geniestreich, diese Geschichte so wahrhaftig zu erzählen, dass man das Parabelhafte daran fast völlig vergisst und regelrecht mitfiebert, bis mit Anders’ altem Vater der titelgebende Last White Man stirbt.
Das Wichtigste aber: Dem rechten Kampfbegriff vom „Großen Austausch“ wird hier eine Erzählung entgegengesetzt, die diese rassistische Verschwörungstheorie als das darstellt, was sie ist: gemeingefährlich, dümmlich und absurd. Und: in your face, AFD, Alt-Right und neue Nazis – der pakistanische Bestsellerautor schenkt uns nicht nur eine gekonnte Abrechnung, sondern auch die wundervolle Liebesgeschichte zwischen Anders und Oona (die beide übrigens auch im englischen Original diese sprechenden Namen tragen) und darüberhinaus eine dringend notwendige Utopie, ja, „eine Feier der Resilienz und der Gemeinsamkeit“, wie die unbestechliche Mithu Sanyal schon über Hamids letzten Roman Exit West von 2017 schrieb. Den habe ich nämlich mit großer Begeisterung gleich hinterhergelesen, genau wie Der Fundamentalist, der keiner sein wollte (2007). Der letzte weiße Mann aber ist eine politische und – auch dank Nicolai von Schweder-Schreiners hervorragender Übersetzung – poetische Glanzleistung und mein absolutes Lieblingsbuch 2023.

Arno Frank, Seemann vom Siebener (Tropen): Mein zweites absolutes Lieblingsbuch 2023 stammt aus der Feder des Schriftstellers und Journalisten Arno Frank, dem vor fünf Jahren mit der wahren Geschichte seines Hochstapler-Vaters (So, und jetzt kommst du) ein kleiner Coup geglückt ist. Sein neuer Roman ist nun, wie Alex Rühle in der Süddeutschen Zeitung urteilt, „sein erster ganz und gar fiktiver Text, der aber so durch und durch wahr ist, wie es nur richtig gute Literatur sein kann.“ Erzählt wird ein einzelner Sommertag in einem Freibad in der pfälzischen Provinz und zugleich das ganze Leben gleich eines Dutzend Menschen, die dort zu Besuch sind oder arbeiten. Da ist Kiontke, der Bademeister, von dem niemand genau weiß, wie lang er schon am Beckenrand steht, und da ist Renate, die an der Kasse sitzt und zu viel raucht. Da sind Lennart, den es aus der weiten Welt hierher zurückverschlagen hat und Joe, deren Mann heute beerdigt wird und sie aber trotzdem ins Bad geht. Da sind die Kindergärtnerin und die Kinder, der Mann, der die Pommes verkauft und seine kranke Frau, und die Witwe des Architekten, die das Freibad schon kannte als es es noch gar nicht gab, ansonsten aber alles vergisst. Und da ist das junge Mädchen, dass an diesem Tag den Seemann machen will, erst vom Dreier, dann vom Fünfer und schließlich vom Siebener, der aber seit Jahren schon gesperrt ist – und alle wissen, warum. Im Grunde ist es eine kleine Geschichte, die Arno Frank erzählt, aber er tut das so leicht, flirrend und makellos, so voller Menschlichkeit und Humor, so warmherzig und würdevoll, dass ich das Buch in einem Zug durchgelesen habe. Und danach glücklich schwimmen gegangen bin.

Katharina Mevissen, Mutters Stimmbruch (mit 7 Monotypien von Katharina Greeven. Wagenbach Verlag): Die Heldin in Katharina Mevissens neuem Roman, ihrem zweiten nach dem preisgekrönten Debüt Ich kann dich hören (2019), ist wahrscheinlich die ungewöhnlichlichste und spannendste Hauptfigur der letzten Jahre. Sie heißt „Mutter“. Einfach Mutter. „Mutter kann neun Sprachen, aber redet mit niemanden mehr. Manchmal spricht sie mit der Zentralheizung, den Bäumen und dem Brot, beschimpft ihre Zähne oder das Radio. Ansonsten schweigt Mutter. Sie hat zu wenig Stimme.“ So beginnt Mutters hinreißende und nur 112 Seiten lange Geschichte, in der man weder ihren Namen noch ihr genaues Alter oder ihren Wohnort erfährt. Wohl aber dies: „Als Kind hatte sie sich vorgenommen, Vater zu werden. Daraus wurde nichts: Mutter wurde Mutter. Es blieb dann keine Zeit, um ab und zu mal Vater zu sein oder Single. Erst als die Kinder zur Schule ging, hatte sie wieder Zeit für kurze Affairen. Dann musste es schnell gehen. Sie verschlang ihre Geliebten an Vormittagen. Die Liebschaften verschwanden bald wieder. Und die Kinder wurden groß und gingen weg. Aber Mutter blieb Mutter und blieb da.“ Und dann ist da noch die Sache mit der Stimme, die nicht mehr die ihre ist ...
In den durchweg hymnischen Kritiken wird Mutters Stimmbruch zumeist als Geschichte einer „körperlichen Veränderung“ beschrieben, als Spiel und Wörtlichnehmen der „Wechseljahre“, die am häufigsten verwendeten Adjektive sind „skurril“ und „surreal“. Das ist auf jeden Fall richtig. Aber das Buch lässt sich durchaus auch als Neuerfindung von Alter(n) und Geschlecht lesen, als generelle Suche nach einer passenden Stimme – und das Adjektiv, das ich wählen würde, ist „komisch“. Vor allem, wenn man das Buch laut liest (was ich unbedingt empfehle), muss man oft und laut lachen; es ist kein Zufall, dass die Autorin derzeit über literarische Mündlichkeit promoviert.
Mutter sucht also. Sie beklagt ihren Verfall. Sie wütet, tobt und schlägt sich die Zähne aus. Dann masturbiert sie zu den (von einer „trockenen Frauenstimme“ im Radio vorgelesenen) Börsenkursen. Schließlich verlässt sie für immer ihr baufälliges Haus. „Mutter braucht Platz. Ohne sagen zu können wofür.“
Und ohne allzuviel zu verraten: Mutter wird ihren Platz und ihre Stimme finden. Sie wird einen lustvollen Flirt mit der Telefonauskunft beginnen. Sie wird die Männerdusche benutzen. Sie wird auch unsympathisch, grob und einmal sogar übergriffig werden. Und wenn man gegen Ende der Lektüre meint, endlich hinter das Geheimnis der fluiden Geschlechtsidentität gekommen zu sein, wird man eines sehr viel Besseren belehrt werden: „Und aus Mutters Glottis löst sich ein tiefer, grollender Gesang. Erhebt sich ihre dritte Stimme, die endlich für Unklarheit sorgt: Mutter ist nicht Mann, nicht Frau, sondern Bass.“ Mein drittes absolutes Lieblingsbuch 2023.

Zwischenbemerkung: Wie schon in den letzten Jahren habe ich mich auf drei (anstatt, wie früher, auf fünf) Lieblingsbücher beschränkt. Aber ein Unsinn bleibt es, denn auch die folgenden Werke waren – auch wenn sie nur ganz knapp beschrieben werden – allesamt Balsam für Hirn und Herz und sind somit nichts anderes als Lieblingsbücher.

Milena Michiko Flasar, Oben Erde, unten Himmel (Wagenbach): Es gibt Menschen, die allein und unbemerkt sterben. Und es gibt Menschen, die dort später saubermachen. Was für eine wunderbare und einfühlsame Geschichte!

Virginie Despentes, Liebes Arschloch (Kiepenheuer & Witsch): In ihrem neuen Buch lässt die Meisterin aller Klassen eine drogen- und freiheitsliebende Diva, eine radikalfeministische Social-Media-Aktivistin und einen gekränkten Täter aufeinender losgehen. Digital. Schonungslos. Und großartig. Können Arschlöcher liebenswert sein? Hat der Briefroman noch irgendeine Relevanz? Muss man das mögen? Ja, ja, ja.

Matto Kämpf, Suppe Seife Seelenheil (Der gesunde Menschenversand): Ich persönlich bin ja schon lang der Überzeugung, dass Matto der lustigste Mensch auf der ganzen Welt ist. Sein neues Buch gibt mir wieder Recht.

Antonia Baum, Siegfried (Claasen): Schon lange bin ich nicht mehr so durchgeschüttelt worden wie bei der Lektüre dieser Geschichte struktureller Gewalt. Eine Frau fährt eines Morgens nicht zur Arbeit, sondern direkt in die Psychatrie. Ihre Gedanken kreisen um ihren Stiefvater, der immer die Welt für sie geordnet hat. „Eine geniale Gespenster-Austreibung“, hat Daniela Dröscher diesen Roman genannt und Recht damit.

Olivia Kuderewski, Haha Heartbreak (Voland & Quist): Ja, Trennungen sind scheiße. Bücher darüber können allerdings grandios sein. So wie dieses! Über Heulen zum Frühstück, tägliches Trinken, sehr viel Sex und nie wieder Sex. Direkt. Genau. Gut geschrieben.

Mario Schlembach, Heute graben (Kremayr & Scheriau): Gekauft habe ich mir das Buch, weil der Mann Totengräber ist. Und Thomas Bernhard-Aficionado. Gemocht habe ich es, weil er sich an beidem schonungslos abarbeitet. Und an der Liebe. Immer wieder. Autofiktion wie ich sie sehr mag.

Valerio Moser, Ein Tablett voll glitzernder Snapshots (edition merkwürdig): 365 Texte. Für jeden Tag einen. Mein Gott, ist dieses Buch ein Füllhorn guter Ideen, saulustiger Miniaturen und verschrobener Sprachspiele! Kostprobe: „26. Januar. Und dann bin ich einfach in dieses Bankgebäude reingestürmt und hab so richtig reingeduzt. So richtig das ganze Personal durchgeduzt. Alle hab ich geduzt [...]“

Rayk Wieland, Beleidigung dritten Grades (Kunstmann): Aberwitziger Roman und Kulturgeschichte in einem – über die wohl dümmste Ausgeburt toxischer Männlichkeit: das Duell. Gibt es nicht mehr heutzutage? Sagt wer?

Christian Meyer, Flecken (Voland & Quist): Ein Todesfall und der Held muss nach 20 Jahren wieder in die Provinz, aus der er stammt ... Was sich nach dem Setting ungefähr aller deutschen Erstlingsbücher anhört, ändert sich schlagartig, wenn man erfährt, dass dieser Held asexuell ist und unsere übersexualisierte Gesellschaft eher als Schauspiel wahrnimmt. Ein tolles Debüt über die Peinlichkeit der Männlichkeit und – ja, das auch – ein grandioser Coming-of-Age-Roman.

Paul Bokowski, Schlesenburg (btb): Der erste Roman des Lesebühnenstars und Meisters der komischen Erzählung ist die Geschichte vom Aufwachsen in einer polnischen Wohnsiedlung am Rande einer westdeutschen Stadt Ende der 80er Jahre. Sehr behutsam ist das, zart, genau ... und du hast mich gekriegt, mein Freund, mit diesen – deinen – stilsicheren Erinnerungen. Danke für die geschenkte Lesezeit.

Ruth Herzberg, Die aktuelle Situation (Mikrotext): Einerseits wollte ich kein Corona-Tagebuch lesen. Andererseits ist es von Ruth Herzberg. „Andererseits“ hat aber so was von gewonnen! Die Frau kann alles. Komisch. Traurig. Schmutzig. Befreiend. Brillant.

Und damit sind wir bei diesem Thema. Denn: Natürlich ist die Pandemie nicht vorbei. Und natürlich hilft es gar nichts, sich Lektüren zu suchen, in denen das froße „C.“ ausgespart wird, es werden ohnehin immer weniger werden. Die folgenden vier Bücher beziehen sich explizit auf Corona und verhandeln doch zugleich so viel mehr und anderes. Lieblingsbücher eben. Lachen-und-Weinen-und-Denken-machende Werke, die ich uneingeschränkt zur Lektüre empfehlen möchte.

Gary Shteyngart, Landpartie (Penguin Verlag): Es ist März 2020 und in einem idyllischen Ladhaus außerhalb der Stadt versammelt ein russischstämmiger Schriftsteller eine illustre Runde alter Freunde und loser Bekanntschaften, um die Pandemie auszusitzen. Das geht gründlich und – wie man es vom New Yorker Kultautor erwarten durfte – sagenhaft lustig schief.

David Schalko, Was der Tag bringt (Kiepenheuer & Witsch): Pandemiebedingt muss Felix seine Firma für nachhaltiges Catering schließen und seine Wohnung an acht Tagen im Monat an Touristen vermieten ... Nein, das ist keine Sozialstudie, sondern ein faszinierendes Psychogramm einer Gesellschaft, die ihren Sinn und ihre Struktur verliert. Komischer wurde der Niedergang eines Mannes selten erzählt. Lieblingssatz: „Seit ich aus den sozialen Medien ausgestiegen bin, muss ich mit Bedauern feststellen, dass es die Menschen, die dort posten, wirklich gibt.“

Daniel Schreiber, Allein (Hanser): Wahrscheinlich hätte Daniel Schreiber den Lockdown nicht gebraucht, um diesen wunderbaren und klugen Essay über das Alleinsein zu schreiben. Aber er hat diese Zeit genutzt. Zum Nachdenken über eine Lebensform und ein Gefühl, das wir alle kennen und nur zu oft vor der Folie der Paar- und Familienstruktur sehen, die als Normalfall gesetzt wird. Mein Lieblingssatz bezieht sich zwar aufs Stricken (!), gilt aber, wie ich finde, ganz generell: „Man nimmt seine Einsamkeit und macht etwas Schönes daraus.“ Ein paar Socken zum Beispiel. Oder ein sehr gutes Buch.

A.L. Kennedy, Als lebten wir in einem barmherzigen Land (Hanser): „Killerclown“ hat A.L. Kennedy den englischen Ex-Premier Boris Johnson einmal genannt, und auch wenn der namentlich in ihrem neuen Roman nicht auftaucht, wird mit seiner politischen Kultur doch abgerechnet, dass es eine Art hat: Die Doppelmoral der Regierung während der Corona-Jahre, die Gier, der Machtmißbrauch, der Verrat, nichts wird ausgelassen.
Die Grundschullehrerin Anna ist in den 80ern landesweit unterwegs mit dem „OrKestrA“, einem aktivistischen Straßentheater. Ebenfalls mit dabei: Buster, mit dem Anna mehr verbindet als nur Sex. Was sie allerdings nicht weiß und worunter sie drei Jahrzehnte lang leiden wird: Buster ist Spitzel der berüchtigten Metropolitan Police, die bis in die Gegenwart hinein Protestbewegungen aller Art unterwandert. Ihn trifft Anna im Jahr 2021 wieder und im Buch wechseln sich nun ihre Alltagsberichte über das Durchkommen im von Covid und Brexit gebeutelten Land mit den Protokollen Busters ab, in denen kalt und minutiös Morde im Auftrag des Geheimdienstes beschrieben werden ... Das ist starker Toback und so ist es nicht verwunderlich, dass dieser Roman in England noch keinen Verlag gefunden hat, in Deutschland aber beim besten Haus am Platz prominent erschienen ist. Genug damit. Ich bin einfach Fan und glaube, Als lebten wir in einem barmherzigen Land ist der beste Roman des Jahres und nur deswegen nicht mein absolutes Lieblingsbuch geworden, weil es A.L. Kennedys früheren Werke alle schon sind, siehe z.B. unten die Literatur-Tipps 2019.

Die fünf Din-A4-Seiten beziehungsweise 16.000 Zeichen sind fast erreicht. Länger sollen meine jährlichen Lektüre-Empfehlungen nicht sein. Habe ich mal beschlossen. Aber hier stapeln sich hier noch so großartige Bücher ... ich muss mich einfach kurz halten, sehr, sehr kurz. Trotzdem und unbedingt aber gilt: Ich habe auch die folgenden (teils nur noch aufgelisteten) Publikationen mit größter Freude gelesen. Sonst stünden sie hier nicht.
(Übrigens: Wer meinen Newsletter abonniert, bekommt übrigens nicht nur 3x pro Jahr Infos und Kolumnen, sondern eben auch die Lektüreempfehlungen per mail.)

Robert Menasse, Die Erweiterung (Suhrkamp): Für Die Hauptstadt wurde Robert Menasse 2017 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet. Sein neuer Roman lässt sich als Fortsetzung lesen und sollte, ginge es nach mir, den Preis wieder erhalten. Und alle anderen Preise obendrein. Wer Europa verstehen möchte, lese diese Bücher!

Birgit Birnbacher, Wovon wir leben (Zsolnay): Die österreichische Autorin schreibt genau und fast karg über Menschen, die es aus der Bahn geworfen hat. Was ich an ihrer Literatur so bewundere: Sie belässt es niemals dabei, nur zu beschreiben, wie Menschen leben, sondern immer auch, wovon. Eine Meisterin der „unpathetischen Empathie“ hat die Frankfurter Rundschau sie genannt und vollkommen Recht damit.

Benjamin von Stuckrad-Barre, Noch wach? (Kiepenheuer & Witsch): Ja, da war Getöse und Hype und Tamtam. So what? Es gibt wahrhaftig Schlimmeres als Rummel um ein Buch. Die wichtigste Passage in diesem Schlüsselroman (natürlich ist einer!) steht auf S. 175. Sie stammt aus der Feder von Rose MyGowan, die 2017 neben Ashley Judd zu den ersten Schauspielerinnen gehörte, die den Weinstein-Skandal ins Rollen brachten. In Noch wach? schenkt sie dem Ich-Erzähler ein Buch über Monica Lewinsky („Patient Zero“) und schreibt in die Widmung: „Wenn sie sich dir anvertrauen – sei kein Arschloch. Hör ihnen zu. Such nach anderen. Hör ihnen zu. Und dann setz dich für sie ein.“
Stuckrad-Barre war kein Arschloch. Er hat sehr genau zugehört.

Dominik Barta, Tür an Tür (Zsolnay)
Carla Kaspari, Freizeit (Kiepenheuer & Witsch)
Monika Neun, Und dann verschwinden (Atlantis Literatur)
Thomas Melle, Das leichte Leben (Kiepenheuer & Witsch)
Adeline Dieudonné, 23 Uhr 12. Menschen in einer Nacht (dtv)
Diese fünf Bücher sind großartig und wunderbar. In jedes davon habe ich mich bei der Lektüre verliebt. Danke dafür. Sehr.

Didier Eribon, Rückkehr nach Reims (Suhrkamp): Und zum Abschluss des Lesejahres habe ich dann endlich, endlich dieses Buch gelesen – und geweint vor Glück.

 

LITERATUR-TIPPS 2022

Ariane Koch, Die Aufdrängung (Suhrkamp): „Sofas machen aus den Reisenden Sesshafte, aus den Aufgeschlossenen In-sich-Gekehrte, aus den Protestierenden Schlafende. Wer ein Sofa hat, der hat sich entschieden, sich niederzulassen, sprich zu kapitulieren und also bald zu sterben. Ich bin aber noch nicht bereit zu sterben. Nicht für das Sofa, nicht für den Gast.“
Eine junge Frau fristet ihr Dasein in einem zu großen Haus in einer zu kleinen Stadt, und als ein Gast auftaucht, nimmt sie ihn kurzerhand bei sich auf. Woher er kommt, welche Sprache er spricht, ob er ein Reisender oder ein Flüchtender ist, all das spielt für Ariane Koch keine Rolle, ab der ersten Seite macht die (v.a. durch ihre Theatertexte bekannt gewordene) Autorin klar, dass hier – jenseits alles Gängigen – die goßen Fragen nach dem Bekannten und dem Unbekannten, nach Assimilation und Integration gestellt werden. „Der Gast ist ganz fein, so fein, dass er fast auseinanderweht“, heißt es bereits auf der ersten Seite. „Wer so fein ist wie der Gast, ist sehr gefährdet. Er könnte leicht in die Fänge irgendwelcher Wahnsinnigen geraten.“ Man wird das Unbehagen bis zum Ende der Lektüre nicht abschütteln können, die Fragen, wer sich hier wem aufdrängt, wo die Gastfreundschaft endet und die Privatsphäre beginnt, aber man wird mit einer derartigen Fabulierlust und Stilsicherheit belohnt, wie es sie bei Suhrkamp (mindestens) seit Magnus Mills’ Meisterwerken der lakonischen Skurrilität von vor zwanzig Jahren nicht mehr gegeben hat. Die „Neue Zürcher Zeitung“ geht sogar noch einen Schritt weiter und schreibt: „Man tut diesem grandiosen Debüt nichts Schlechtes, wenn man es in Relation zur fixen Größe Kafka setzt.“ Oder in den Worten von „ZEIT online“: „Die Aufdrängung hat das Zeug zum Klassiker.“ Dem ist nicht zu widersprechen und nichts hinzuzufügen. Mein absolutes Lieblingsbuch 2022.

Christoph Höhtker, Alles sehen (Ventil Verlag): Mein zweites absolutes Lieblingsbuch 2022 ist zugleich das Eingeständnis eines Versäumnis. Es hätte bereits 2013 hier stehen können, 2015 müssen und 2017 vielleicht nochmal. In diesen Jahren nämlich erschien die „Frank Stremmer“-Trilogie des in Genf lebenden Autors Christoph Höhtker und trotz einer schnell wachsenden Fangemeide, der sichere Gewährsleute wie Rocko Schamoni, Jochen Distelmeyer oder der wunderbare Frank Schulz angehören, bin ich erst jetzt auf den Geschmack gekommen. „Ich genieße die absolute Irrelevanz meines Tun“, sagt dieser Frank Stremmer, der im ersten Teil (Die schreckliche Wirklichkeit des Lebens an meiner Seite) durch die Genfer Businesswelt strauchelt. Sex, Drogen und komplette Degeneriertheit, man kommt nicht umhin, an die kaputten und wenig sympathischen Figuren von Michel Houellebecq, Frédéric Beigbeder oder (des frühen) Christian Kracht zu denken – mit dem entscheidenden Unterschied: Höhtker hat mehr Humor. Trotz Nominierung sowohl für den Deutschen als auch für den Schweizer Buchpreis gilt freilich die Triggerwarnung: Frank Stremmer ist ein Sexist, Welthasser und zynischer Drogenliebhaber. Bezeichnenderweise wird er im dritten Teil (Das Jahr der Frauen) seinem Therapeuten auf die Frage nach seinen guten Vorsätzen und Jahresplänen antworten: Zwölf Frauen in zwölf Monaten und dann Selbstmord. Und genau das dann auch tun.
Vielleicht gefällt mir der zweite Teil (Alles sehen) auch deswegen am besten, weil Frank Stremmer hier nur am Rande auftaucht, weil der in der Geburtsstadt B. hängengebliebene, mittlerweile arbeits- und hoffnungslose Jugendfreund Michael Brandt im Hauptfokus steht sowie ein weiteres knappes Dutzend anderer desillusionierter, schräger und schillernder Figuren. Alles sehen ist der Roman eines Tages und einer Nacht, und die eigentliche Heldin dieses Schicksalsreigens ist die Stadt selbst: das durchgehend abgekürtze B. „Irrenhaus“, „Vorhölle“, „Straßen-Soße“. Gemeint ist Bielefeld und nach der Lektüre dieses Buches wird niemand mehr behaupten, dass es diese Stadt nicht gebe. Es sei angemerkt, dass man das Buch 1.) wunderbar ohne Kenntnis der anderen beiden Teile lesen kann, dass man 2.) nicht Soziologie studiert haben muss, um Spaß an der wirklich genialen Ironisierung der sogenannten „Bielefelder Schule“ zu haben, und dass man 3.) Jochen Distelmeyer vertrauen darf, wenn er klappentextet: „Wie immer sexy, edgy und sehr, sehr lustig. ’Alles sehen’ – This is not Beschwichtigungsliteratur.“

Sophia Fritz, Steine schmeißen (Kanon Verlag): Egal, ob ihr schon einen Plan für die Silvesterverbringung habt oder nicht – lest dieses Buch! Danach werdet ihr ein paar Tage fassungslos durch euer Leben irren und euch fragen, wie es so weit kommen konnte. Was ist das bitte für eine Rakete von einem Debüt-Roman! Wien, 31. Dezember, ein halbes Dutzend Freund:innen wollen das alte Jahr loswerden und das wehrt sich. „Die Möbel sehen aus, als wäre auf jedem schon mal jemand von hinten erwürgt worden [...].“ Ich kann mich nicht errinnern, wann mich eine Lektüre das letzte Mal dermaßen geflasht hat. Steine schmeißen ist so sehr Sound und Gegenwart, dass es schmerzt, und beinhaltet mehr gelungene Dialoge als sämtliche Buchpreis-Behängten zusammen. Bald wird der Quatsch von der „Stimme ihrer Generation“ losgehen, dabei steht doch alles schon geschrieben: „Ich bin immer irgendwo zwischen Trickfilminteressiert und Fernseherrunterschmeißen.“ Mein drittes absolutes Lieblingsbuch 2022.
[Erschienen ist es übrigens im neugegründeten Kanon-Verlag und die Freude ist groß, dass es in Berlin nun neben dem Verbrecherverlag und Voland & Quist ein weiteres Indie-Haus gibt, aus dem man ausnahmslos jedem Titel Aufmerksamkeit schenken darf, etwa der Wiederveröffentlichung des weitestgehend unbekannten Erstlings des Bestsellerautors Bov Bjerg. Ja, der hat sieben Jahre vor Auerhaus (Lieblingsbuch 2015) schon ein Buch publiziert, es hieß Deadline und verkaufte sich ganze 224 Mal. Wenn mich jemand fragt, worauf ich stolz bin im Leben, dann antworte ich: darauf, zu diesen 224 Menschen zu gehören. Und mehr noch zu jenen, die damals darüber schrieben: „Selten hat ein Autor mit dem Verdikt ’form follows function’ so ernst gemacht“, schrieb ich damals, 2009, und weiter dies: „Daneben ist ’Deadline’ auch noch eine anrührende Liebesgeschichte, ein tragikomisches Road-Movie [...] und überhaupt jetzt schon das beste Buch des Jahres (und des nächsten gleich mit).“ Ich würde es heute wieder so schreiben. Ohne den letzten Halbsatz vielleicht. Denn nächstes Jahr kommt der neue Roman Kork von Sophia Fritz, gemeinsam verfasst mit meinem Freund und Weggefährten Martin Bechler („Fortuna Ehrenfeld“). Vermutlich die nächste Rakete.]

Zwischenbemerkung: Wie schon in den letzten beiden Jahren habe ich mich auf drei (anstatt, wie früher, auf fünf) Lieblingsbücher beschränkt. Aber ein Unsinn bleibt es, denn auch die folgenden Werke waren Balsam für Hirn und Herz und sind somit nichts anderes als Lieblingsbücher. Dass sie nur ganz knapp beschrieben werden, hat ausschließlich damit zu tun, dass sie allesamt bereits Bestseller sind. Oder bald werden. In allen Fällen: Zu Recht.

Maxim Biller, Der falsche Gruß (Kiepenheuer & Witsch): Was Sie schon immer über Opportunismus wissen wollten, aber bisher nie zu lesen wagten. Ein großartiges, bitterböses Buch über den sogenannten deutschen Literaturbetrieb. „Warum hat Maxim Biller nicht längst schon den Büchner-Preis?“, fragt Denis Scheck. Wegen Büchern wie diesem.

Benedict Wells, Hard Land (Diogenes): „In diesem Sommer verliebte ich mich, und meine Mutter starb.“ So lautet der erste Satz des neuen Romans von Benedict Wells. Und es folgen tausende weitere Sätze und alle sind toll. Missouri, Mitte der 80er, eine umwerfende, berührende Geschichte über das Erwachsenwerden.

Judith Hermann, Daheim (S. Fischer): Nächste Bestsellerautorin, nächster Bestseller. Eine Frau lebt auf dem Land, an der Küste, denkt an den lang vergessenen Wendepunkt ihres Lebens zurück und versucht noch einmal eine Liebesgeschichte. Sehr karg ist das, genau, zart, schön.

Sally Rooney, Schöne Welt, wo bist du (Claassen): Ich glaube nicht, dass Sally Rooney jemals ein mittelmäßiges oder gar schlechtes Buch schreiben wird. Ihr neues ist wie schon Gespräche mit Freunden und Normale Menschen einfach nur grandios und bietet en passant einen wunderbaren Einblick in ihr eigenes Schreiben.

Christian Kracht, Eurotrash (Kiepenheuer & Witsch): Ja, dieser Roman knüpft an den berühmten Erstling Faserland an. Der Ich-Erzähler ist der Autor dieses Werkes und wieder soll eine Reise unternommen werden. Diesmal gemeinsam mit der sterbenden Mutter in die Abgründe einer Familie. Der über alle Zweifel erhabene Clemens Setz schrieb auf seinem (übrigens unbedingt folgenswürdigen) Instagram-Account: „Hingerissen von dem zarten und bewegenden EUROTRASH. What a deliciously odd and tender triumph of a book.“ Stimmt.

Peter Buwalda, Ottmars Söhne (Rowohlt): Was für ein sensationeller Roman! Wer Bonita Avenue (2013) mochte, wird dieses Buch lieben. Es erzählt über 600 atemlose Seiten von zwei Stiefbrüdern und zwei Vätern, von Verantwortung und Versäumnissen, von Erdöl, Beethoven und Sexualität. Ein Wunder der Erzählkunst!

Martin Suter / Benjamin von Stuckrad-Barre, Alle sind so ernst geworden (Diogenes): Ja, dieser Gesprächsband ist so hinreißend, beschwingt, klug und komisch wie alle sagen.

Castle Freeman, Herren der Lage (Hanser): Seit der Lektüre von Männer mit Erfahrung (Lieblingsbuch 2017) lese ich jeden weiteren Western des „grumpy old man“ der amerikanischen Literatur – und jedes Mal mit Genuss. Wieder verschlägt es Sheriff Lucien Wing in die Wälder von Vermont, wieder sind die Dialoge so lässig und witzig, dass es eine Art hat, und wieder ist seine Frau Clemmie die eigentliche Heldin.

Jenny Offill, Wetter (Piper): Dass es solche Bücher auf die Bestsellerliste der „New York Times“ schaffen, versöhnt mich mit den USA. Aus extrem kurzen, geschliffenen und scheinbar nebensächlichen Miniaturen entsteht ein tiefer, großer und welthaltiger Kosmos. Ein Plädoyer gegen jede Form von Hoffnungslosigkeit. Oder wie die „Los Angeles Times“ es ausdrückt: „Genial, das richtige Buch für das Ende der Welt.“

Wolf Haas, Müll (Hoffmann und Campe): Frage nicht. Ein neuer Brenner. Wahnsinn. Eh.

Sophia Fritz / Martin Bechler, Kork (Kanon Verlag): Die nächste Rakete!

Es folgen, wieder in gebotener Kürze, fünf Bände aus dem so genannten „komischen Fach“. Versteht sich von selbst, dass ich oft auch weinen musste. Zugleich sind es fünf Debüts, fünf Wagnisse, fünf Lachen-und-Denken-machende Bücher, die ich uneingeschränkt zur Lektüre empfehlen möchte.

Valerio Moser / Dominik Muheim, Und was die Menschheit sonst noch zu bieten hat (edition merkwürdig): Sechs Tage Kreuzfahrt mit David Hasselhoff und 600 seiner Fans. Allein für diese Geschichte gebührt den beiden wunderbaren Schweizer Poetry Slammern der Pulitzer Price. Oder zumindest der Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor. Weitere Reisen führten die beiden zur Fondueweltmeisterschaft nach Tartegnin, zur Waffen-Sammelbörse nach Luzern, ins Tropical Island bei Berlin und in den Sextourismus nach Thailand. Dominik Muheim und Valerio Moser haben diese Reisen allesamt überlebt und ein sagenhaft komisches Buch daraus gemacht.

Adeline Dieudonné, Bonobo Moussaka (dtv): Ja, die Autorin ist durch ihren Roman Das wirkliche Leben bekannt geworden, der monatelang auf der Bestsellerliste stand und derzeit verfilmt wird. Ihre literarische Karriere aber begann mit dem One-Woman-Theaterstück Bonobo Moussaka, mit dem Adeline Dieudonné selbst in Belgien auftrat und das im Gegensatz zum knüppelharten Roman grandios böse und extrem witzig ist. Im Monolog einer alleinerziehenden Mutter, die mit der Musterfamilie ihres Cousins und der Familie eines befreundeten Bankers Weihnachten feiert, bleibt kein Stein auf dem anderen – und das ist auch gut so. Eat the rich!

Angela Lehner, Vater unser (dtv): Die Ich-Erzählerin Eva Gruber findet sich in der psychiatrischen Abteilung eines Wiener Spitals wieder. Die Polizei hat sie hergebracht und will (ebenso wie der Chefpsychiater Doktor Korb) Antworten. Eva gibt sie, aber kann man ihr trauen? „Was für ein Debüt!“, urteilt Joachim Meyerhoff. „Immerzu möchte man diese Eva gleichzeitig würgen und küssen – sie geht mir nicht mehr aus dem Kopf.“ Eine Geistesgestörte, wie es sie noch nie gab: hochkomisch, besserwisserisch und zutiefst manipulativ.

Anais Meier, Mit einem Fuss draussen (Voland & Quist): „Weil wenn eine Leiche mit sportlichem Fusskleid in einem Gewässer liegt, dann geschieht folgendes: Die Leiche zersetzt sich langsam. Und wenn die Leiche an ihren Füssen Turnschuhe trägt, dann ist das so, dass der Turnschuh wegen seinem hochtechnologisierten Gewebe Auftrieb hat. Und die Turnschuhe, wenn die fest geschnürt sind, ruckeln und reissen ständig an den Knöcheln der Leiche [...]“ Anais Meier hat nicht nur einen sensationell lustigen Krimi geschrieben, sondern vor allem einen „Kommissär“ erschaffen, den man nur lieben kann: den erwerbslosen, alten Einsiedler Gerhard, dem es um nichts weniger geht als um die Wiederherstellung des Friedens. Zumindest im kleinen Park einer kleinen Schweizer Stadt. Eine Hommage an die Ränder der Gesellschaft, ein Feuerwerk der Komik, ein stilistisches Großereignis!

Ferdinand Schmalz, Mein Lieblingstier heißt Winter (S. Fischer): Auch beim ersten Roman des Theaterautors und Bachmann-Preisträgers Ferdinand Schmalz merkt man, dass er viel Wolf Haas gelesen hat, und es trotzdem (wie Anais Meier auch) geradezu mühelos schafft, einen völlig eigenen Stil zu entwickeln. Es treten auf: Ein Tiefkühlkostvertreter, eine Tatortreinigerin, ein Ministerialrat, der Nazi-Weihnachtsschmuck sammelt ... Sehr gut ist das. Sehr eigen. Und sehr lustig.

16.000 Zeichen. Fünf Din-A4-Seiten. Das ist die mir selbst auferlegte Beschränkung der jährlichen Lektüre-Empfehlungen und ich habe sie fast erreicht. Allerdings stapeln sich hier noch ein paar großartige Bücher ... und ja, ich muss mich kurz halten. Sehr kurz. Trotzdem und unbedingt aber gilt: Ich habe auch die folgenden (teils nur noch aufgelisteten) Publikationen mit größter Freude gelesen. Sonst stünden sie hier nicht.
(Übrigens: Wer meinen Newsletter abonniert, bekommt übrigens nicht nur 3x pro Jahr Infos und Kolumnen, sondern eben auch die Lektüreempfehlungen per mail.)

Marius Goldhorn, Park (Suhrkamp): „Sie sahen Systeme stürzen. Sie gingen in den Park.“ Ein dichtes, gegenwärtiges und kluges Buch über einen jungen Mann, der durch Europa trudelt und dem das Virtuelle genauso nah geht wie die Realität. Und der genau deshalb spürt, dass es da mehr geben muss als nur Oberflächen. Wow!

Benedikt Feiten, Leiden Centraal (Voland & Quist): Auch der von mir für jeden seiner Romane gefeierte Benedikt Feiten (absolutes Lieblingsbuch 2019) kennt sich mit digitalen Räumen aus und erzählt von der Macht der Technologie, die das Erinnern formt. Vor allem aber ist Leiden Centraal ein amtlicher Thriller und eine atemlose Jagd durch die Niederlande, Rumänien und Deutschland. Bester Lesestoff.

Florian Weber, Die wundersame Ästhetik der Schonhaltung beim Ertrinken (Heyne Hardcore): Heinrich Pohl treibt auf einer mit Bierdosen gefüllten Kühlbox im Atlantischen Ozean. Neben ihm schwimmt ein Lama und ein bewusstloser Clown. Weder weiß der Held, wer er ist, noch, wie er in diese Situation geraten ist, aber sie schreit nach Aufklärung. Der neue Roman des „Sportfreunde Stiller“-Musikers beginnt sehr verrückt und wirr, entpuppt sich aber bald als berührendes Roadmovie durch die USA, das ich geradezu verschlungen habe.

Goran Vojnovic, Tschefuren raus! (Folio Verlag): 2008 erschien dieser slowenische Kultroman über die wütenden und entwurzelten Vorstadtjungs von Ljubljana und jetzt gibt es ihn endlich auf Deutsch. Ein Hoch auf den Folio Verlag und vor allem auf den Übersetzer Klaus Detlev Olof, die sich dieses ordinären, abgedrehten und melancholischen Meisterwerks angenommen haben. Und wie!

Jürgen Roth, Leise Leute (Haffmanns Verlag bei Zweitausendeins)
Marion Poschmann, Die Kieferninseln (Suhrkamp)

Jochen Schimmang, Laborschläfer (Edition Nautilus)

Das sind drei wunderbare Bücher. Ich habe gestaunt bei der Lektüre. Und gelacht. Und geweint. Danke für die geschenkte Lesezeit.

Ulf Erdmann Ziegler, Eine andere Epoche (Suhrkamp): Eigentlich sollte dieser Roman mein absolutes Lieblingsbuch 2022 werden und ich kann nicht mal genau sagen, warum er es nicht wurde. Vielleicht, weil nicht jede/r meine Leidenschaft für Fiktionen der jüngeren politischen Geschichte teilt. Erzählt wird die Zeit des NSU-Untersuchungsausschusses im Bundestag und natürlich kennt und erkennt man die realen Personen hinter den Figuren. Aber darum geht es nicht. Ulf Erdmann Ziegler gelingt ein brillantes Buch über das Innenleben der Republik und das Versagen der Behörden. Wer wissen will, wie dieses Land zu dem wurde, was es heute ist, lese diese (perfekt komponierte und schnörkellose, gut geschriebene) Geschichte.

Sebastian 23, Cogito, ergo dumm (Benevento): Abschließend hatte ich das große Vergnügen, das neue Buch meines Freundes und Kollegen Sebastian23 zu lesen, eine 350seitige Sachbuchschwarte, die es verdient, sensationell genannt zu werden. Weil sie klug ist. Und unterhaltsam. Und sagenhaft recherchiert. Bei „Cogito, ergo dumm“ handelt es sich um eine „Geschichte der Dummheit“, die aber viel eher als (philosophische) Wissenschaftsgeschichte daherkommt, in der sich Lachen und Erkenntnis stetig abwechseln und der Autor nie vergisst, dass wir Menschen noch zu retten sind.
Ebenfalls gelesen und mit Freude angeschaut habe ich einen (schon älteren) Fotoband von Sebastian, mit dem Titel Purer Unfug. Fotos von Quatsch und komische Texte (WortArt). Er hat ihn mir mit folgenden Worten gewidmet: „Für Jess. Wo du mit feinem Auge die heitere Melancholie entdeckst, fallen mir stets nur die Albernheiten auf. Ich hoffe, das Buch ringt dir trotzdem ein Schmunzeln ab.“
Danke für die Blumen, mein Freund, aber erstens sind Albernheiten ausgesprochen wunderbar. Und zweitens spricht aus deinen Fotografien – egal wie unter- oder überbelichtet oder schnappgeschossen sie im einzelnen sein mögen – nicht „purer Unfug“, sondern das Beste, das ich über Kunst sagen kann: nämlich ein Menschenfreund.
Dein Schaffen – und das gilt für deine Fotos wie für deine Texte, Songs und täglichen Tweets resp. Insta-Slides – ringt mir kein Schmunzeln ab, sondern Respekt, Hochachtung und, ja, immer wieder auch Glücksmomente. Wie verdammt gut, dass du am Start bist!

 

LITERATUR-TIPPS 2021

Jovana Reisinger, Spitzenreiterinnen (Verbrecher Verlag): Neun Frauen, neun Geschichten. Laura fiebert ihrer Hochzeit entgegen („dem Höhepunkt jedes weiblichen Lebens“), Barbara tröstet sich mit einem Hund über ihr Dasein als Witwe hinweg, Lisa kann keine Kinder bekommen, wird verlassen und rastet aus, Verena erbt eine Villa, Jolie wird entlassen und schwanger, Petra bricht aus, Tina hat nur noch Angst ...
Was der Autorin und Filmemacherin Jovana Reisinger in ihrem zweiten Roman gelingt, darf sensationell genannt werden. Sie benennnt ihre Protagonistinnen nach Frauenzeitschriften, geht mit jeder einzelnen schonungslos ins Gericht und verrät sie dabei an keiner Stelle. Rollenzwänge, Geschlechterstereotype, Gewalt ... Reisinger erklärt nicht, verurteilt nicht, sie erzählt – in guten und genauen Dialogen, treffenden Bildern und mit viel bösem Humor. Das Ergebnis ist eine literarische Feier von weiblicher Wut und Ausdauer. Oder wie es die Süddeutsche Zeitung in ihrer Kritik formulierte: „Dieses Buch ist die denkbar lustigste Version des sonst zwingend humorlosen Satzes: Sexismus ist ein strukturelles Problem.“ Dem ist nichts hinzuzufügen. Außer: Lesen! Mein absolutes Lieblingsbuch 2021.

Stephan Lohse, Johanns Bruder (Suhrkamp): Über zwanzig Jahre hat Johann seinen älteren Bruder Paul nicht mehr gesehen, und jetzt das: Paul hat in einem Dorf bei Celle siebzehn Hühnern den Kopf abgeschlagen und wird, weil er zu dem Vorfall beharrlich schweigt, in eine psychiatrische Klinik gebracht. Dort soll ihn Johann abholen und erkennt bald, was es mit den Hühnern auf sich hat: Besagtes Dorf bei Celle ist Altensalzkoth, wo sich von 1946 bis 1950 Adolf Eichmann versteckte, dessen Weg Paul minutiös verfolgt und aufgezeichnet hat; so wie er überhaupt alles im Leben aufschreibt – auf Abertausenden von Zetteln, die er in Plastiktüten mit sich herumschleppt.
„’Warum ist Ihr Bruder stumm?’ Über diese Frage hatte Johann nie nachgedacht. ’Paul kann nicht lügen’, sagte er.“
Die beiden ungleichen Brüder unternehmen einen abenteuerlichen Roadtrip durch die deutsche Provinz, immer entlang des 52. Breitengrades, in Richtung niederländische Nordseeküste. Es wird eine Reise in die Geschichte – sowohl der eigenen als auch der deutschen ... Zugegeben, das klingt jetzt sehr nach ’zu viel, zu schwer, zu konstruiert’, aber das Gegenteil ist der Fall. Stephan Lohse gelingt in seinem neuem Roman eine Leichtigkeit und ein Witz, dass man aus dem Staunen und Bewundern gar nicht mehr rauskommt. So lässt sich das Dunkle und Böse also auch erzählen! So kann das tatsächlich gehen!
„Er ist wütender als ich. Er hatte gute Gründe, von zu Hause fortzugehen. Ich bin geblieben. Er hat seither vermutlich einiges erlebt. Ich habe anderen dabei zugesehen.“
Johanns Bruder
erzählt behutsam und eindringlich von einer ungeheuren Wut und einer überraschenden Liebe und ist mein zweites absolutes Lieblingsbuch 2021.

Christoph Simon: und das nach vier milliarden jahren evolution (edition merkwürdig): Mein drittes absolutes Lieblingsbuch 2021 ist – zum ersten Mal in all den Jahren, in denen ich diese Literatur-Tipps nun aufschreibe – ein Gedichtband, und nach der Lektüre dieses schmalen Buches von Christoph Simon frage ich mich, wie ich die Lyrik nur so vernachlässigen konnte.
„erkenne schönheit. / sei eine wohltat. / meide imperative. / geh in den wald.“
Seit seinem ersten Roman (Franz oder Warum Antilopen nebeneinander laufen, 2001) lese und bewundere ich jede Zeile des Berner Schriftstellers und Kabarettisten, weil sie auf eine Weise anrührend und komisch sind, wie ich sie mir kaum besser vorstellen kann und wie ich sie tatsächlich nur selten woanders finde: „er hat den kontakt zu seinen verwandten abgebrochen. / aber weil sie sich immer melden, haben sie’s noch nicht gemerkt.“
Christoph Simon schreibe „Gedichte für Menschen, die Gedichte hassen“, hat der österreichische Autor und Festivalmacher Elias Schneitter einmal gesagt und ich möchte ergänzen: und für Menschen, die Gedichte lieben, auch.
Wem Lyrik wider jeden besseren Wissens trotzdem einfach nichts gibt, dem und der sei der Roman Spaziergänger Zbinden ans Herz gelegt, „Lieblingsbuch 2010“ und eine Geschichte, die man nach der ersten Lektüre sofort ein zweites Mal lesen will, und dann immer wieder ... ich weiß, wovon ich spreche. Man darf sich Christoph Simons Leser*innen als glückliche Menschen vorstellen.

Zwischenbemerkung: Wie schon im letzten Jahr habe ich mich auf drei (anstatt, wie früher, auf fünf) Lieblingsbücher beschränkt. Aber ein Unsinn bleibt es, denn auch die folgenden Werke waren Balsam für Hirn und Herz und sind somit nichts anderes als – Lieblingsbücher.
(Übrigens: Wer meinen Newsletter abonniert, bekommt übrigens nicht nur 3x pro Jahr Infos und Kolumnen, sondern eben auch die Lektüreempfehlungen per mail.)

David Szalay, Was ein Mann ist (dtv): Dieses Buch, bereits 2019 erschienen, lässt sich als „Komplementärroman“ zu Jovana Reisingers Spitzenreiterinnen lesen und begreifen. Diesmal sind es neun Männer, deren Geschichten erzählt werden, neun Männer im Alter zwischen siebzehn und dreiundsiebzig, jeder von ihnen in einem kritischen Moment seines Lebens und jeder auf Reisen durch ein Europa ohne Grenzen. „Man lernt zu lieben, was da ist, und nicht, was fehlt. Wie sollte man sonst leben können?“ So desillusionierend fasst der Held im letzten Kapitel des Romans die tief sitzende Unzufriedenheit der Männer im 21. Jahrhundert zusammen. Aber er weiß auch, dass es „die Sehnsucht nach dem, was sein könnte“ ist, die sie allesamt an- und umtreibt. Diese Sehnsucht in sämtlichen Spielarten über 500 Seiten zu beleuchten, ist das Verdienst dieses Romans und katapultierte All That Man is auf die Shortlist zum Booker-Preis.

Deniz Ohde, Streulicht (Suhrkamp): A propos Preise! Den Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung, den aspekte-Literaturpreis und die Nominierung für den Deutschen Literaturpreis hat Deniz Ohdes Debutroman 2020 eingeheimst. Und zwar völlig zu Recht! Streulicht „handelt von einer jungen Ich-Erzählerin halb-türkischer Herkunft, die an ihren deutschen Heimatort in unmittelbarer Nähe eines Industrieparks zurückkehrt und sich in Rückblenden an ihre Familiengeschichte und ihren Weg vom Arbeiterkind zur Akademikerin erinnert“. So weit, so wikipedia. Die (literarische) Wahrheit allerdings ist „eine Luft, die oben anders riecht“. Denn dass es feine und grobe Unterschiede zwischen den Klassen gibt, sollte sich mittlerweile herumgesprochen haben, und dass Bücher über Klassismus (von Didier Eribon über Bov Bjerg und Christian Baron bis hin zu Daniela Dröscher) zu den spannendsten und besten der letzten Jahre gehören, auch. Deniz Ohde fügt der Literatur über „Klasse und Kampf“ eine neue Stimme hinzu. Würde man mich fragen: die aufregendste. Weil man ihr jedes Wort in jedem Satz glaubt.

Sally Rooney, Normale Menschen (Luchterhand): Und ja, Sally Rooney ist die Großmeisterin der eben beschriebenen literarischen Strömung. Gefeiert – und zwar weltweit – wird ihr neuer Roman natürlich wegen der schmerzhaften Lovestory, der Intensität einer Jahrzehnte währenden On/Off-Liebesgeschichte zwischen den beiden Hauptfiguren Marianne und Connell. „Freundschaft“, „Sex“ und „Macht“ –davon erzählt derzeit wohl niemand so formvollendet, genau und witzig wie die 1991 geborene Irin. Der Clou aber ist: „Alle wissen, dass Marianne in der weißen Villa mit der Auffahrt wohnt und dass Connells Mutter Putzfrau ist, aber niemand weiß etwas über die besondere Beziehung dieser Fakten.“ Es geht eben nicht um „ein Paar, das keines sein will“, sondern um eines, das keines sein kann. Dass Sally Rooney diese bittere Realität auf keiner Seite vergißt, macht Normal People zum „besten Roman des Jahres“ (The Times) und die Autorin zum „literarischen Phänomen des Jahrzehnts“ (The Guardian).

Joachim B. Schmidt, Kalmann (Diogenes): Kalmann Odinsson ist das Dorforiginal von Raufarhöfn im isländischen Nordosten, selbsternannter Sheriff und führender Gammelhai-Produzent. Und er ist einer der Menschen, deren „Räder im Kopf manches Mal rückwärtslaufen“ und für die eine Blutlache im Schnee mehr durcheinander bringt als man sich in seinen kühnsten Träumen ausmalen könnte. Kalmann ist spannender Krimi, groteske Provinzposse und gut recherchierte Reportage vom Alltag am kalten Ende der Welt in einem. Oder in den Worten von Kester Schlenz im Stern: „Kalmann ist ein Hammer. Ein großartiges, anrührendes Buch mit einem ganz besonderen Helden, den man sofort ins Herz schließt.“

Mithu Sanyal, Identitti (Hanser): „Feiere, als gäbe es kein Gestern!“, heißt es an einer Stelle in diesem hochgelobten Spiegel-Bestseller, aber das ist gar nicht so einfach, denn „Gestern“ ist eine Lüge. Die berühmte Uni-Professorin Saraswati, feministische Ikone der Postcolonial Studies und PoC ist in Wirklichkeit weiß! Der Skandal ist perfekt, das Netz explodiert und für die 26jährige Studentin Nivedita ist mit einem Mal alles, aber auch wirklich alles anders. Was ist, wenn Hautfarben, Herkünfte und Identitäten in Wahrheit niemals eindeutig sind? Und: what’s sex got to do with it? Mithu Sanyal schafft es, sämtliche Debatten über „race“ gegen den Strich zu bürsten – rasant, kunstfertig und extrem witzig. Wenn ein Buch auf Höhe von 2021 ist, dann dieses! Und der Klappentext lügt nicht: „Den Schleudergang dieses Romans verlässt niemand, wie er*sie ihn betrat.“

Es folgen, in gebotener Kürze, meine liebsten Bände geschätzter Kolleg*innen aus dem komischen Fach. Jedes dieser sechs Bücher hat mich zum Denken und Frohlocken gebracht – und zum Lachen, weswegen ich sie uneingeschränkt zur Lektüre empfehlen möchte.

Paula Irmschler, Superbusen (Claasen): Der wilde, wahrhaftige und sehr komische Erstling der TITANIC-Redakteurin und ZDF Magazin Royale-Autorin. „Paula Irmschler lesen ist wie Saufen mit der besten Freundin, aber ohne Kater. Magisch.“ (Margarete Stokowski)

Ella Carina Werner, Der Untergang des Abendkleids (Satyr): Nächste TITANIC-Redakteurin, nächstes Pointen-Feuerwerk, nächstes Margarete Stokowski-Zitat: „Ich freue mich so über dieses Buch, ich küsse den Boden, auf dem es geht.“

Susanne M. Riedel, Ich hab mit Ingwertee gegoogelt (Satyr): Susanne M. Riedel schreibt nicht für die TITANIC, sondern vorrangig für Berliner Lesebühnen. Komisch kann sie trotzdem. Sehr sogar. Und Unterhaltung auch. Mit der Betonung auf „Haltung“. Die Rolle von Margarete Stokowski übernimmt Sarah Bosetti: „Susanne Riedel hat einen guten, klugen, unaufgeregten, subtilen Humor. Zum Glück behält sie ihn nicht für sich.“ Stimmt!

Ursus Wehrli, Heute habe ich beinahe was erlebt. Ein Tagebuch (Kein & Aber): Nach seinen kongenialen „Kunst Aufräumen!“-Bestsellern hat der Schweizer Komiker („Ursus & Nadeschkin“) ein wunderbar zu lesendes und prächtig anzuschauendes Tagebuch-Buch veröffentlicht. Er schenkt uns unter anderem Sätze wie „Freitag: Heute habe ich mich ein bißchen verliebt. Aber niemand hat es gemerkt“ sowie die Information, dass man, wenn man bei der Bildersuche von Google nach der Zahl „241543903“ sucht, ausschließlich Bilder von Menschen findet, die ihre Köpfe in Kühlschränke stecken. (Nicht, dass ich das wissen wollte, aber nachgeprüft habe ich es doch. Und ihr werdet es auch tun. Ich weiß, was ihr letzten Sommer getan habt ...)

Rhaban Straumann, Noch ist Heute (Knapp Verlag): Ebenfalls aus der Schweiz und ebenfalls Teil eines Theaterduos („Strohmann-Kauz“) ist Rhaban Straumann. Noch ist Heute ist bereits seine dritte Buchveröffentlichung und ein Konzentrat aus zehn Jahren „Schreibarbeit“: Essays, Momentaufnahmen und Kolumnen. Satirisch, poetisch und – einfach sehr schön.

Ralf Schlatter, Muttertag (Limbus): Ich verweise auf die Romane Sagte Liesegang (mein „Lieblingsbuch 2015“) und Steingrubers Jahr (Literatur-Tipps 2017) sowie auf das dritte preisgekrönte Schweizerische Theaterduo („schön&gut“), deren Teil Ralf Schlatter seit Jahr und Tag ist. In seinem neuem Roman bittet eine Mutter ihren Sohn, ihr beim Sterben zu helfen. Und der Sohn macht sich auf den Weg. Zu Fuß. Von Zürich nach Schaffhausen. Ach ... wie ich diese Genauigkeit in der Sprache, dieses Zurückgenommene, diese leise Komik doch liebe!

Die mir selbst auferlegte Beschränkung der jährlichen Lektüre-Empfehlungen liegt bei maximal fünf Din-A4-Seiten (oder 16.000 Zeichen). Noch bin ich drunter. Allerdings stapeln sich hier noch so viele grandiose Bücher, dass ich mich kurz fassen muss. Trotzdem und unbedingt aber gilt: Ich habe alle folgenden (teils nur noch aufgelisteten Publikationen) mit größter Freude gelesen, sonst stünden sie hier nicht.

Olivia Kuderewski, Lux (Voland & Quist): Ein Road-Trip zweier Frauen quer durch die USA. Ein Abgesang auf die Welt der schönen Bilder. Kalt, schnell und hart. „Konzentrier dich, du wirst gefickt“, sagt Lux an einer Stelle, und 100 Seiten später: „Man kann jemanden so vermissen, dass man sich wünscht, er wäre überall schon vor einem da gewesen. Egal, wo man hinkommt. Dann wären alle Orte schon imprägniert, mit der Sicherheit, die man mit diesem Menschen hatte.“ Wow! Und: Lesen!

Nicolas Mathieu, Rose Royal (Hanser Berlin): Auch der neue Roman des wunderbaren Nicolas Mathieu gehört in die Kategorie „schnell und hart“. Auf gerade einmal 90 Seiten wird das Leben einer Frau erzählt, die sich eine Waffe beschafft, damit die Angst endlich die Seiten wechselt. Selten wurde eine unwahrscheinliche späte Liebe und der fatale männliche Stolz besser erzählt.

Oyinkan Braithwaite, Meine Schwester, die Serienmörderin (Blumenbar): Lagos, Nigeria, und zwei Schwestern, die unterschiedlicher nicht sein könnten: die wunderschöne Ayoola, die die Angewohnheit hat, ihre Männer umzubringen, und Korede, die eher praktisch veranlagt und dafür zuständig ist, hinter ihrer Schwester aufzuräumen. Sehr cool, sehr witzig und so beiläufig feministisch wie abgründig.

Ilona Hartmann, Land in Sicht (Blumenbar): Ilona Hartmann lebt im Internet und wer ihr nicht folgt, verpasst die Witze, die Sophie Passmann, Kirsten Fuchs und Hazel Brugger gerne gemacht hätten. Jetzt hat sie einen schönen, ersten Roman über eine groteske Vater-Suche geschrieben. Mein Lieblingssatz daraus: „Wenn in meiner Kindheit vom ’wichtigsten Mann im Leben’ geredet wurde, dachte ich nie an meinen Vater, sondern immer an den Busfahrer.“

Paulina Czienskowski, Taubenleben (Blumenbar): „Die, die verlassen, haben keine Lieder, die sie spielen können“, weiß die Protagonistin aus diesem weiteren, extrem tollen Erstling aus dem geschätzten Hause „Blumenbar“. Und sie weiß auch, dass manchmal eine einzige Woche ausreicht, um ein Leben völlig umzukrempeln. „So wie seine Vorgänger sagte auch mein Freund mir einmal, dass ich doch wenigstens so tun solle, als würde ich ihn lieben. Eine unfassbar niederschmetternde Bitte.“

Tina Uebel, Dann sind wir Helden (C.H.Beck): Ruth hat die Schnauze voll von belanglosen Affairen und geht in die Berge, Kathrin, Hausfrau und verheiratet, beginnt eine unwahrscheinliche Karriere als Influenzerin im Netz, ihr 17jähriger Sohn Simon sucht und findet den Ausnahmezustand bei den G20-Krawallen in Hamburg und Jero lebt als Bergführer fast beiläufig das intensive und gefährliche Leben, nach dem sich die anderen sehnen. Ein fantastisches Buch, das viel länger nachhallt als „just for one day“. „O Gott, ich habe das Alter erreicht, in dem man entweder Brustkrebs kriegt oder Kunsthandwerk.“

Mieko Kawakami, Brüste und Eier (Dumont): In einer Gesellschaft, die alles Körperliche tabuisiert, schreibt Mieko Kawakami über Brustvergrößerungen, künstliche Befruchtung und Asexualität. Ein Panorama weiblicher Unterdrückung und weiblicher Stärke im heutigen Japan. Haruki Murakami urteilte (und ich kann ihm nur beipflichten): „So großartig, dass es mir den Atem raubt.“

Olga Tokarczuk, Gesang der Fledermäuse (Kampa): Ist das nun ein Krimi, ein feministischer Roman oder eine Anklageschrift gegen Tierquälerei? Spoiler-Alarm: Alles drei. Vor allem aber ist es das erste deutschsprachige Buch der Literaturnobelpreisträgerin im Taschenbuch und zugleich eines mit der überraschendsten Auflösung seit Dr. Watson das erste Mal „whodunit“ gemurmelt hat.

Erik Flügge, Egoismus. Wie wir dem Zwang entkommen, anderen zu schaden (Dietz): Ein Sachbuch möchte ich dann doch auch noch anpreisen. Weil es wirklich sehr gut und erhellend ist. Der Autor weiß um den Leumund von „Egoismus“ und „Zusammenhalt“, aber er weiß eben auch, dass eine „kluge Ordnung [...] beides fördern“ muss. Das Geheimnis lautet „systemisches Denken“ und darin ist Flügge ein echter Meister. Er schreibt ohne akademische Dünkel und mit vielen großartigen Beispielen, und während der Lektüre denkt man immer wieder: „Verdammt noch mal, ja! So könnte es doch funktionieren in dieser Gesellschaft!“
Auf die Gefahr hin, dass das seltsam und aus der Zeit gefallen klingt: Zwei Kapitel aus Erik Flügges Buch möchte ich besonders empfehlen, das über die „Gewerkschaften“ und das über die „Kirchen“.
(Ja, ja, ich wäre tatsächlich gern Sozialdemokrat, aber seit Jahrzehnten kommt mir immer etwas dazwischen. Meistens die SPD.)

Jasmin Schreiber, Marianengraben (Eichborn)
Anna Gien & Marlene Stark, M. (Matthes & Seitz)

Ich danke meiner Freundin Kathrin aus Hamburg sowie meiner Freiburger Lieblingsbuchhändlerin, die mir diese beiden ganz und gar wundervollen Bücher empfohlen haben; das erste ein Roadmovie über das Sterben, tieftraurig und sehr lustig zugleich, das zweite das Protokoll einer (sexuellen) Ermächtigung, das als „Neuköllner Porno-Roman mit cooler Heldin“ (Deutschlandfunk Kultur) Furore gemacht hat.

Rolf Lappert, Leben ist ein unregelmäßiges Verb (Hanser): Mit der Lobpreisung des neuen Romans von Rolf Lappert möchte ich schließen, die Lektüre hat mich durch den Lockdown getragen, sie hat mich sprachlos gemacht – und glücklich.
1980 entdecken die Behörden in einer Aussteiger-Kommune auf dem (norddeutschen) Land vier Kinder, die ohne Schulbildung und versteckt von der Welt aufgewachsen sind ... Sie werden getrennt und aus der Isolation in die Wirklichkeit geworfen. Bewegend und zärtlich erzählt Rolf Lappert diese „vier Leben“. Auf 1000 Seiten, von denen nicht eine zuviel ist. Welch Abenteuer! Welch Geschenk!

 

LITERATUR-TIPPS 2020

Katja Oskamp, Marzahn mon Amour. Geschichten einer Fußpflegerin (Hanser Berlin): Zehn Jahre ist es her, dass Katja Oskamp ihr letztes Buch veröffentlichte. Hellersdorfer Perle heißt es, und ich weiß noch, wie gern ich diesen gegen jeden Strich gebürsteten Liebesroman damals gelesen habe, wie beeindruckt und – ja, das auch – verunsichert ich war. Danach wurde es still um die gefeierte Autorin.
„Die mittleren Jahre, in denen du weder jung noch alt bist, sind verschwommene Jahre. Du kannst das Ufer nicht mehr sehen, von dem du einst gestartet bist, und jenes Ufer, auf das du zusteuerst, erkennst du noch nicht deutlich genug. In diesen Jahren strampelst du in der Mitte des großen Sees herum [...].“ So beginnt Oskamps neues Werk, mit dem Eingeständnis eines Lebens, das „fad geworden“ ist: das Kind aus dem Haus, der Mann krank und die Schriftstellerei zunehmend erfolg- und vor allem brotlos. Also sattelt Katja Oskamp im Alter von vierundvierzig Jahren um und wird Fußpflegerin; vom vermeintlich sicheren Stand im Literaturbetrieb runter in die Hocke, auf die Knie, um die Füße anderer zu umsorgen. Ausgerechnet in einem Salon in Marzahn, dem Inbegriff von Berliner Plattenbau. Weiter „unten“ geht kaum, denkt man, soll man denken, darf man denken. Aber schon in der Ausbildung zur neuen Tätigkeit sagt die Autorin über sich und ihre Mitstreiterinnen: „Wir wussten, wie Scheitern sich anfühlt. Wir waren demütig und bescheiden und kleinlaut geworden [...]
Dieses Buch ist keine „Heldinnengeschichte“. Und noch besser: Es erzählt auch keine. Stattdessen kommen die Menschen zu Wort, die den Salon mit ihren geschundenen Füßen besuchen, sehr alte Menschen zumeist, oft arme, nicht selten vom Weg abgekommene. Katja Oskamp hört ihnen einfach zu. Und schreibt auf, was sie hört: anrührende Geschichten sind das und grandios komische, stille, menschliche und spektakuläre – vor allem aber welche, die ohne dieses Buch niemals erzählt worden wären. Zurecht avancierte Marzahn mon Amour zum SPIEGEL-Bestseller, für mich ist es das absolute Lieblingsbuch 2020.

Simone Lappert, Der Sprung (Diogenes): Eine junge Frau steht auf dem Dach eines hohen Hauses und weigert sich herunterzukommen. Die Polizei geht von einem Suizidversuch aus und riegelt das Gebäude ab. Die Schaulustigen zücken ihre Handys ...
Das ist der Ausgangspunkt des neuen, zweiten Romans der Schweizer Autorin Simone Lappert. Nur drei Tage umfasst die Geschichte, aber diese Zeit reicht aus, um das Leben der Menschen einer Kleinstadt komplett aus der Bahn zu werfen. Bei den einen tritt die Gier ungefiltert zu Tage, bei den anderen verschüttet geglaubte Menschlichkeit. Die grundsätzliche Frage aller lautet: Wie müde sind wir unserer Leben?
„Hast du den Trotz in ihrem Gesicht gesehen“, fragt ein Freund den anderen beim Blick hoch auf das Dach, „die Wut in ihrem ganzen Körper? Wer schreit und tobt, wünscht sich nicht, das Leben wäre vorbei. Er wünscht sich, es wäre anders.“
Der Sprung
ist ein vielstimmiges, komisches und vor allem sinnliches Buch über Möglichkeiten oder besser: über ein Sich-Stürzen in eine nicht mehr für möglich gehaltene Freiheit.
Mehr darf nicht verraten werden, außer dass die Lektüre unbedingt und ohne jedes „aber“ lohnt (wie übrigens auch die von Lapperts wieder aufgelegtem Erstling Wurfschatten). Mein zweites absolutes Lieblingsbuch 2020.

Erri de Luca, Fische schliessen nie die Augen (List): Mein drittes absolutes Lieblingsbuch 2020 ist schon etwas älter, stammt aus der Feder eines der erfolgreichsten italienischen Schriftsteller und rechtfertigt den hier inflationär verwendeten Begriff des „Lieblingsbuches“ aufs Trefflichste.
Das sei die allerschönste Geschichte, die er kenne, sagte ein mir sehr lieber Mensch, als er mir Fische schliessen nie die Augen schenkte. Ich las das Buch in einer Nacht. Seitdem verschenke ich es weiter. An Herzensmenschen.
Beschrieben wird ein Sommer am Meer vor fünfzig Jahren, der letzte Sommer der Kindheit auf der Schwelle zum Erwachsenwerden, der Sommer des ersten Kusses, der Sommer der Veränderungen. „Jeder Satz ist reine Poesie“, lässt sich Christine Westermann auf dem Umschlag zitieren, und ich schwöre, sie hat Recht damit.
In einem anderen Buch de Lucas, Der Tag vor dem Glück, steht ein Satz, der Westermanns Aussage nicht nur beweist, sondern mich auch durch dieses vermaledeite 2020 trägt: „Ich begriff, dass meine Angst schüchtern war, sie musste allein sein, um zum Vorschein zu kommen.“
Ich glaube, das Beste, das man über ein Buch sagen kann, ist: Danke für die geschenkte Zeit. Oder: Danke, dass ich nochmal dabei sein durfte, wie erstmals im Leben die magische Kraft der Wörter erkannt wird. Hier sage ich beides gern.

Zwischenbemerkung: Ja, in den letzten Jahren habe ich immer fünf Lieblingsbücher beschrieben. Dass es 2020 nur drei sind, liegt zum einen daran, dass ich exakt diese drei in einem „Kultur trotzt Corona“-Schnellschuss-Video angepriesen habe. Zum anderen will und werde ich mich diesmal wirklich kürzer fassen. Und zum ganz anderen sind auch die folgenden drei Werke Lieblingsbücher.

Anna Herzig, Herr Rudi (Voland & Quist): Anna Herzig lebt in Salzburg, aber ihr neues Buch ist sehr Wien. Zwei Tage vor seiner Pensionierung bekommt der Gerichtsvollzieher Rudi die Diagnose Krebs. „Hat’s ihn also auch erwischt.“ Diese Geschichte tut nicht einmal ansatzweise so, als sei sie nicht todtraurig. Aber sie ist eben alles andere auch: Unbemüht liebevoll. Schnörkellos karg. Irrsinnig lustig. Es ist die Geschichte einer großen Liebe und einer tiefen Freundschaft. „Auftritt Herr Rudi, bitte schön.“ Danke. Gern geschehen.

Dominik Barta, Vom Land (Zsolnay): Nochmal Österreich, allerdings ganz anders. In seinem Debutroman geht Dominik Barta dorthin, wo die Provinz heute politisch ist. Die sechzigjährige Bäuerin Theresa fühlt sich krank, kann nicht mehr und schweigt fortan. Was für ein literarischer Geniestreich, denn die tatsächlich so noch nie geschilderte „dörfliche Depression“ bringt nicht nur die Welt auf dem Hof ins Wanken, sondern sämtliche anderen Gewissheiten gleich dazu. Die erwachsenen Kinder, längst in die weite Welt geflohen, müssen anreisen, um endlich wieder miteinander zu reden. Theresas Mann muss lernen, Hilfe und Gefühle zu akzeptieren. Alles ist neu, wenig gelingt, nichts hilft.
Vom Land
ist ein echter Wurf, der mich in seiner Ernsthaftigkeit manchmal an Gerbrand Bakkers sensationelles Oben ist es still erinnert hat. Chapeau!

Scott McClanahan, Sarah (Ars vivendi): Ich kann der New York Times in ihrem Urteil nur beipflichten, dies sei „kein Buch, das man in Ruhe auskostet, das ist ein Buch, das man inhaliert.“
Beweise gefällig? So lauten die jeweils ersten Sätze der ersten drei Kapitel:
„Ich weiß nur eine Sache übers Leben. Wenn du lang genug lebst, fängst du an, Dinge zu verlieren. Alles wird dir genommen.“ – „Ich war der beste betrunkene Autofahrer der Welt. Ich war schon jahrelang in Übung.“ – „Ein paar Wochen später verbrannte ich eine Bibel.“
Und so geht das weiter und weiter. Ohne Rücksicht – schon gar nicht auf sich selbst. Sarah ist die atemlose, authentische Geschichte einer Trennung, geschrieben von einem jungen Mann, der gegen jede Wahrscheinlichkeit sein Leben nochmal auf die Kette kriegt und zum hochgelobten Autor wird; ein wilder Ritt, den der literarische Tausendsassa Clemens Setz so rauh wie genial aus dem amerikanischen Englisch ins Deutsche übersetzt hat.

Es folgen, in gebotener Kürze, meine drei liebsten Kurzgeschichtenbände sowie drei weitere Bücher, die zwar ein wenig aus der Reihe tanzen, aber trotzdem (nein: deswegen!) uneingeschränkt zur Lektüre empfohlen werden.

A.M. Homes, Deine Mutter war ein Fisch (Kiepenheuer & Witsch): Über die Autorin meines letztjährigen Lieblingsbuches lasse ich zwei andere, von mir hochverehrte Künstlerinnen, sprechen. Einfach, weil sie Recht haben.
Zadie Smith: „Die Geschichten von A.M. Homes kriegt man nicht mehr aus dem Kopf. >Deine Mutter war ein Fisch< ist ein rasiermesserscharfer Kurzgeschichtenband.“
Sonja Heiss: „Diese Geschichten liest man nicht einfach. Man lebt in ihnen. Hebt man den Blick aus den Seiten, wundert man sich, wo man sich befindet.“

Ottessa Moshfegh, Heimweh nach einer anderen Welt (Liebeskind): Himmel, sind diese Stories gut! Hart, schnell, kaputt – aber ohne jemals zu vergessen, dass es sie geben könnte, jene „andere Welt“.

Jochen Schimmang, Adorno wohnt hier nicht mehr (Edition Nautilus): Von Jochen Schimmang lese ich tatsächlich jedes Buch und frage mich immer wieder aufs Neue, wo dieser Mann bloß diese Warmherzigkeit und wunderbare Stille hernimmt. In seinem Erzählband widmet er sich Formen und Figuren des Verschwindens – sein Lebensthema (wie man spätestens seit dem einfach nur fantastischen Roman Altes Zollhaus, Staatsgrenze West weiß).

Lukas Bärfuss, Die toten Männer (Suhrkamp): Bereits am 24.3.2020 schrieb der Dramatiker und letztjährige Büchnerpreisträger im SPIEGEL seinen so klugen wie provokanten Artikel über „Corona in der Schweiz“ Das Kapital hat nichts zu befürchten, der Mensch schon. Wahrscheinlich, weil mich dieser Text nachhaltig peitschte, las ich sein Prosadebut aus dem Jahre 2002 und wurde nicht enttäuscht: diese Lakonie, diese Genauigkeit, diese Sprachfertigkeit – alles schon da; und auch diese Wut auf die Zustände sowie die schonungslose Beschreibung der Zerstörungskraft des Reichtums. Go for it, mate!

Dietrich zur Nedden, Diesseits. Ein Hirnroman (Zu Klampen): Ich bin befangen, weil ich Dietrich schon so lange kenne und über Maßen schätze ... und um die Geschichte seines Hirntumors natürlich weiß ... die Angst, die OP, der ganze Wahnsinn ... dann die Genesung ... und die monatelangen Versuche, darüber zu schreiben ... sich die Erinnerung zurückzuerobern ...
Sagen wir, wie es ist: Dieses Buch beweist, wie autofiktionales Erzählen jenseits aller Selbstdarstellung und Ich-Suada gehen kann, „tief berührend bis zum letzten Atemzug – und vor allem beim ersten danach!“ (Felicitas Hoppe)
Und weil sich in Diesseits viele authentische Briefe und Mails finden (es ist eine große Freude, bei einigen die Verfasser*innen zu enträtseln!) hier noch ein paar Zeilen aus dem April dieses Jahres:
„Lieber D., ich hoffe, du bist wohlauf. Zu Klampen war so freundlich, mir deinen Hirnroman zu schicken, von dem ich ja bereits das ein oder andere Kapitel kannte. Nun habe ihn in einem Rutsch gelesen und kann mich nur bedanken [..] Ich mag deine Geschichte wirklich sehr, vom Vorwort bis zu den Danksagungen, von der ersten Diagnose bis zum wunderbaren, schlußendlichen Erinnern, in dem natürlich eines meiner liebsten Bücher von Uli Becker mitklingt (wobei, wie du ja selbst am besten weißt, tatsächlich alle Bücher von Uli Becker Lieblingsbücher sind), über die Kladden-Notate bis zu all den schönen Elektrobriefen [...] Da ist ist dir etwas sehr Gutes gelungen. Herzlich grüße ich gen Norden aus Freiburg, J.“

Wiglaf Droste, Die schweren Jahre ab dreiunddreißig (Edition Tiamat): Ein gutes Jahr ist der Meister aller Klassen nun tot und es gibt nur diese zwei Worte zu sagen: ER FEHLT.
Sein Verleger, der gute Klaus Bittermann, hat einen trefflichen Sammelband veröffentlicht, bei dem alles stimmt. Auch das Vorwort von Friedrich Küppersbusch (der, aber das sollte nun wirklich allen bekannt sein, seit Wochen die mit Abstand beste „Corona“-Satire verantwortet: Lockerroom.)

Diesmal schaffe ich es, mich an die mir selbst auferlegte Beschränkung der jährlichen Lektüre-Empfehlung zu halten! Maximal fünf Din-A4-Seiten (oder 16.000 Zeichen) lautet der Plan. Der allerdings nur funktioniert, wenn ich zu allen folgenden Büchern nicht mehr als zwei Sätze schreibe. Oder besser nur einen. Trotzdem und unbedingt aber gilt: Ich habe alle nun nur noch aufgelisteten Publikationen mit größter Freude gelesen, sonst stünden sie hier nicht. Sie waren (und sind) nichts weniger als Balsam für Seele, Hirn und Herz.

Willy Vlautin, Ein feiner Typ (Berlin Verlag): Der Sänger der THE DELINES hat einen herzzerreißenden Western geschrieben, über ein steinaltes Farmerehepaar in den Bergen von Nevada und ihren besten Mann auf der Ranch, ein junges „Halbblut“, das sich aber lieber als Preisboxer neu erfinden will (genaugenommen als „mexikanischer“ Preisboxer, weil es „indianische“ nicht gibt). Mein Gott, ist das traurig! Und schön.

Bov Bjerg, Serpentinen (Claassen): Ein Vater unterwegs mit seinem Sohn zu den Schauplätzen der Kindheit – wo nicht nur das „Auerhaus“ stand, sondern wo sich alle männlichen Vorfahren das Leben nahmen; Bov Bjergs dritter Roman und wieder wahnsinnig gut (vgl. hierzu die absoluten Lieblingsbücher 2009 und 2015).

Helena Adler, Die Infantin trägt den Scheitel links (Jung und Jung): Ich schreibe einfach den Klappentext ab. Weil er gar so brillant ist: „Von einem kleinen Mädchen, das sich nicht unterkriegen lässt. Nicht mal von der eigenen Familie. Dieses Buch schäumt vor Wut und Witz. Und erzählt von den Dingen, als gingen sie auf eine Kuhhaut!“ Genau so ist es!

Fran Ross, Oreo (dtv): Endlich! Der verschollene Roman von 1974! Eine sechzehnjährige schwarze Jüdin räumt alle aus dem Weg, die ihr an den Kragen wollen. „Oreo ist die krasseste und zugleich liebenswerteste Heldin, die je durch ein Werk der Weltliteratur gewirbelt ist.“ (The Literary Review)

Sally Rooney, Gespräche mit Freunden (Luchterhand): Ja, dieses Buch ist genau so intensiv, intim, bissig, sexy, witzig und provokant, wie alle sagen.

Carol Rifka Brunt, Sag den Wölfen, ich bin zu Hause (Eisele): Ein Coming-of-Age-Roman aus der Zeit, als das Humane Immundefizienz-Virus (HIV) die Welt erschütterte. 500 ganz und gar großartige Seiten. Lesen! Oder auf die Verfilmung warten, die nächstes Jahr in die Kinos kommen soll.

Mely Kiyak, Haltung. Ein Essay gegen das Lautsein (Duden): Empathisch. Klug. Politisch. Nimm dies, alter weißer Mann!

Sorj Chalandon, Wilde Freude (dtv): Vier Frauen, die an Brustkrebs erkrankt sind, haben es so satt, Opfer zu sein und wagen einen Coup: einen Überfall auf den größten Juwelier in Paris ... Vive la rébellion!

Thomas Meyer, Wolkenbruchs waghalsiges Stelldichein mit der Spionin (Diogenes): Motti Wolkenbruch ist wieder da. Und wieder sehr lustig. Die Fortsetzung seiner „wunderlichen Reise in die Arme einer Schickse“.

Joachim Schnerf, Wir waren eine gute Erfindung (Kunstmann): Erst als seine Frau stirbt und Salomon das erste Pessachfest ohne sie ausrichten muss, wird dem alten Mann klar, was für eine Kunst es ist, die Familie zusammenzuhalten. Eine Hymne auf die Liebe und den Humor. Und auf das Überleben.

Synke Köhler, Die Entmieteten (Satyr): Spannend. Gut geschrieben. Hochaktuell. Eine Haus- und Schicksalsgemeinschaft trotzt der Gentrifizierung.

Gregor Sander, Alles richtig gemacht (Penguin Verlag): Eine Feier der Freundschaft und ein grandioser Roman über die frühen (und späteren) Jahre des wiedervereinten Deutschland. (Da fällt mir ein: Ich sollte unbedingt mal wieder in Sanders wunderbarem Erzählband Winterfisch blättern, siehe Literatur-Tipps 2011).

Sigrid Nunez, Der Freund (Aufbau): Der beste Freund nimmt sich das Leben, doch noch bevor die Ich-Erzählerin mit dem Trauern beginnen kann, meldet sich „der letzte Wille“: Der Verstorbene hinterlässt ihr seinen Hund. Eine achtzig Kilo schwere Dogge. Wie das in der winzigen Wohnung, in der Hunde zudem verboten sind, zu bewerkstelligen ist, liest sich wie ein kleines literarisches Wunder.
„Hunde sind, wie jeder weiß, die besten Trauernden der Welt“, schreibt die Autorin Joy Williams, aber der Clou dieses Buches ist, dass sowohl der Tote als auch die Freundin Schriftsteller/innen sind und Der Freund so zum besten Roman über das Schreiben wird, den ich seit langem gelesen habe. (Und ganz nebenbei ist es eine schöne Geschichte, dass Sigrid Nunez im Alter von fast siebzig Jahren erstmals die New York Times Bestsellerliste kapert, mit dem National Book Award ausgezeichnet wird und somit – endlich – einem großen Publikum bekannt wird.)

Markus Orths, Picknick im Dunkeln (Hanser): Eine Geschichte, die von Anfang bis Ende im Dunkeln spielt, in den komplett finsteren, unendlich langen Gängen der Welt zwischen Leben und Tod. Dort treffen sich zwei Männer und unterhalten sich gegen jede Wahrscheinlichkeit über die großen Fragen des Lebens. Obwohl mehr als  siebenhundert Jahre Weltgeschichte zwischen ihnen liegen. Ja, das ist ziemlich haarsträubend, und wenn dieser Roman nicht aus der Feder von Markus Orths stammen würde – noch so ein Autor, von dem mich jedes seiner Bücher begeistert –, ich hätte ihn wohl nicht gelesen.
Wer die beiden Männer sind, die sich gegenseitig ihre Leben erzählen?
Stan Laurel und Thomas von Aquin.
Doch, das geht!
Der begnadete Komiker und der große Denker des Mittelalters.
Beide wollen ans Licht.
Und schenken uns fantastische Sätze über das, was mich dieses 2020 bislang hat überstehen lassen:
Das Lachen.

 

LITERATUR-TIPPS 2019

A.L. Kennedy, Süßer Ernst (Hanser): A.L. Kennedy stellt die größenwahnsinnige Frage nach der Möglichkeit einer Liebe, die süß ist, weil sie den anderen (mitsamt seiner Verletzungen und Einsamkeit) ernst nimmt. Ohne zu viel zu verraten: Ja. Eine solche Liebe ist möglich. Zumindest im neuen Roman der grandiosen schottischen Autorin.
Jon, geschieden von der untreuen Exfrau und verachtet von der gemeinsamen Tochter, verbringt seine Tage in stillem Selbsthass als hochrangiger Staatsdiener der britischen Regierung. Um seiner Entfremdung irgendwie Herr zu werden, schreibt er alleinstehenden Frauen in deren Auftrag Liebesbriefe. Eine von ihnen ist die bankrotte Buchhalterin Meg, die sich gerade von ihrer Alkoholsucht erholt ... Was sich ein bisschen so anhört wie das Setting zu einem Hugh-Grant-Film der späten 90er-Jahre ist in allen Punkten das exakte Gegenteil davon. Die Geschichte ist so aufrichtig, so kaputt, so unwahrscheinlich und so witzig, dass es weh tut. Und zwar durchgehend. Auf jeder einzelnen der knapp 600 Seiten!
„Einen großen Liebesroman für Feinde des Liebesromans“, nannte die Berliner Zeitung das Buch und hat vollkommen Recht damit. Dass Süßer Ernst allerdings in erster Linie als der Roman über den Brexit gefeiert wird, verwundert ein wenig, ist er doch 2016 (vor der Abstimmung) erschienen. Es mag an den luziden Beschreibungen eines durch und durch unmoralischen Verwaltungsapparates liegen oder an den gnadenlosen Schilderungen zerstörter Träume – mit Sicherheit allerdings an der Sprachkunst der Autorin. Kennedy gelingt von derb („Der Handschlag des Ministers fühlt sich an, als würde man warme Scheiße in einer Socke gereicht bekommen“) bis zart schier alles („Lasst mich einfach kurz in Ruhe, ich bin damit beschäftigt, mich gut fühlen zu wollen ...“).
Kurzum: dass zwei komplett gebrochene Menschen im Laufe eines einzigen Tages zueinanderfinden, in einer Stadt, die niemals zur Ruhe kommt, ist einigermaßen spektakulär. Wie sie es tun, ist eine literarische Sensation und Serious Sweet mein absolutes Lieblingsbuch 2019.

Benedikt Feiten, So oder so ist das Leben (Voland & Quist): Ich mochte schon seinen Erstling Hubsi Dax (siehe Lieblingsbücher 2017), aber bei Benedikt Feitens aktuellem Roman wusste ich nach dem ersten Absatz bereits, dass ich ihn lieben würde: „Der große Anton Lobmeier raucht eigentlich nur noch aus einem Grund. Er raucht, damit er weiß, was er als Nächstes tut. Wenn sich seine Freundin von ihm getrennt hat. Wenn sein Vater anruft, um ihm zu sagen, dass seine Mutter gestorben ist. Wenn die Polizei ihm mitteilt, dass seine beste Freundin verschwunden ist. Er raucht, damit er dann nicht verloren ist.“
So oder so ist das Leben
ist eine wunderbare Geschichte über das Scheitern, in der (wie Antje Weber in der Süddeutschen Zeitung schrieb) „das Unbehagen angesichts der Erwartungen einer auf Leistung ausgerichteten Gesellschaft satirisch auf die Spitze“ getrieben wird. Vor allem aber ist sie all dies zugleich: Schlüssiger Coming-of-Age-Roman, wildes Roadmovie, ehrliche Hommage an das Leben, die Liebe, den Film als Kunstform (einfach nur großartig die Beschreibung der fiktiven bayerischen Polizeiserie „Alarm für Ramersdorf 82“) und an München (in Feitens München würde ich zurückkehren).
Titel-Aficionados sei empfohlen, bei So oder so ist das Leben eher an Zarah Leanders Interpretation des berühmten Mackeben/Beckmann-Liedes zu denken als an jene von Hildegard Knef und unbedingt an den Film von Veit Relin (1976) und nicht an Herbert Reineckers gleichnamige Fernsehserie (1982 – 84). Für alle anderen gilt: Feitens Buch ist ein Wurf und mein zweites absolutes Lieblingsbuch 2019.

Jocelyne Saucier, Ein Leben mehr (Insel Taschenbuch): Mein drittes absolutes Lieblingsbuch 2019 ist im Original bereits 2011 erschienen und ich kann der Buchhandlung des Herzens nur danken, dass sie mich auf diese zum Heulen schöne Geschichte dreier alter Männer, die sich in die nordkanadischen Wälder zurückgezogen haben, aufmerksam gemacht hat.
„Man ist frei, wenn man sich aussuchen kann, wie man lebt. – Und wie man stirbt.“ In diesem kurzen Dialog schimmert auf, um was es den 90-jährigen Männern geht und was sie in aller Konsequenz verfolgen. Schon lange habe ich keinen so guten Roman mehr über Selbstbestimmtheit, über das Verschwinden dürfen und (ja, auch das!) über die Liebe gelesen. Oder in den Worten des selten irrenden Thomas Steinfeld (SZ): „Einsame Spitze – Jocelyne Saucier entzündet Signalfeuer der Freiheit und erzählt von der Souveränität des Alters unter den Bedingungen der Wildnis.“ Dem ist nichts hinzuzufügen. Allenfalls: Lesen! Gut aufbewahren! Alle paar Jahre wieder lesen!

Richard Russo, Diese gottverdammten Träume („Empire Falls“; Dumont): Auch was mein viertes absolutes Lieblingsbuch 2019 angeht, muss ich Asche auf mein Haupt streuen. 2001 veröffentlicht und mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet, wurde es zwar erst 2016 ins Deutsche übersetzt, aber das ist keine Entschuldigung dafür, so lange noch nicht mal vom Autor gehört zu haben, geschweige denn je eine Zeile von ihm gelesen zu haben. Seit Mitte der 90er-Jahre gibt es Bücher von Russo auch auf Deutsch, sein erfolgreichstes („Nobody’s Fool“; dt. „Straße der Narren“ [1995]; Neuübersetzung: „Ein grundzufriedener Mann“ [2017]) wurde schon 1994 mit Paul Newman, Melanie Griffith und Bruce Willis fürs Kino verfilmt ... und das ging komplett an mir vorbei. Welch Glück, das jetzt alles nachholen zu können!
Um zwei selten verwendete Superlative zu verwenden: Erstens kenne ich nur wenig 700-Seiten-Bücher, bei denen ich sagen würde, dass wirklich kein einziges Wort zu viel drinsteht – die von Richard Russo gehören ausnahmslos dazu. Und zweitens: Hätte sich Raymond Carver je erfolgreich an die lange Form gewagt, er hätte so geschrieben wie Russo. Diese Kargheit! Diese unbedingte Liebe zum Detail! Dieses große Herz für die „kleinen Leute“!
Der SPIEGEL urteilte: „Russo zeigt jenes abgehängte Amerika, über das seit Trump alle reden.“ Stimmt. Und das Jahre vor Trump! Ich spare mir jedwede Inhaltsangabe und verspreche nur hoch und heilig, dass das Lesevergnügen maximal sein wird.
Ein guten Einblick in Russos Schaffen bietet dieses Interview in der NZZ und hier nur noch ein persönlicher Tipp für die Reihenfolge: Man beginne mit Ein grundzufriedener Mann, lese dann die Fortsetzung Ein Mann der Tat („Everybody’s Fool“, 2016) und beschließe den Reigen dann mit seinem – wie ich finde – besten Buch: Diese gottverdammten Träume. (Und dann gibt es ohnehin kein Zurück mehr: „Empire Falls“ gibt es als HBO-Miniserie mit Ed Harris, Philip Seymour Hoffman, Helen Hunt, Paul Newman und Robin Wright Penn ... man nehme sich für die nächsten Wochen und Monate am besten nichts anderes vor!)

André Herrmann, Platzwechsel (Voland & Quist): Ja, das ist der André Herrmann! Internetaffiner Slam-Poet, kongenialer Lesebühnen-Star, Autor für Jan Böhmermanns „Neo Magazin Royale“, Erfinder des Wortes Hypezig ... Zum Glück schreibt er auch Romane. Und dieser (sein zweiter) ist sensationell und ein weiterer Beweis dafür, dass es eine gute Idee ist, sich als komischer Autor ernsten Themen zu widmen (hier: der Demenz des Großvaters). Vorausgesetzt natürlich, man kann schreiben. Und das kann Herrmann. Ich würde sogar so weit gehen, dass er in puncto „Dialoge“ derzeit zu den besten in deutscher Sprache gehört. (Und, was die Literarisierung von Umgangssprache und Dialekt angeht, ist er der Beste; bei einer Geschichte, die in der Provinz Sachsen-Anhalts spielt, ein echtes Kunststück!)
Platzwechsel
erzählt also von den eher dunklen Seiten des Lebens: von Krankheit, Ängsten und vom Altern – aber eben auch von lebensgroßen T-Rex-Skulpturen, von Trennungsfeiern und davon, was passiert, wenn man den eigenen Eltern zu Weihnachten einen Joint schenkt. Sehr lustig ist das. Und sehr gut. Mein fünftes absolutes Lieblingsbuch 2019.

Es sei zwischenbemerkt: Nur, weil die nun folgenden Lektüretipps kürzer ausfallen als die der Lieblingsbücher, heißt das nicht, dass ich sie nicht mit größter Freude gelesen hätte. Alle hier aufgelisteten Publikationen waren und sind Balsam für Seele, Herz und Hirn. Ich ordne unter drei Gesichtspunkten:

I) BÜCHER, DIE ICH AUFGRUND IHRER „AMÉLIE“-HAFTIGKEIT NIEMALS IN DIE HAND NEHMEN WÜRDE, ES DANN ABER DOCH TAT UND ZUM NIEDERKNIEN SCHÖN FAND

Maria Semple, Wo steckst du, Bernadette? (btb): Ich gebe zu, dass ich diesen Roman nur gekauft und gelesen habe, weil Jonathan Franzen in der Klappentextlobpreisung bekundet, er habe sich „mit unbändigem Vergnügen durch dieses Buch gefressen“. Und mir ging es dann ebenso!
Worum geht’s? Bernadette, durchgeknallte, ehemalige Stararchitektin, ist vom Leben dermaßen überfordert, dass sie ihren Alltag von einer indischen Assistentin online regeln lässt und sich schließlich in Luft auflöst. Was das für ihren Nerd-Mann und die Streber-Tochter bedeutet, ist tatsächlich wahnsinnig lustig. Und führte dazu, dass das Buch 50 Wochen lang auf der New-York-Times-Bestsellerliste stand.

Vea Kaiser, Rückwärtswalzer oder: Die Manen der Familie Prischinger (Kiepenheuer & Witsch): Nochmal Bestseller. Nochmal zu Recht. Drei Romane hat die junge Wiener Autorin gebraucht, bis endlich einmal einer in Wien spielt. Und die Lebensgeschichte dreier sehr ungleicher Schwestern aus dem Waldviertel ist wirklich umwerfend. Familienroman und Road-Movie in einem, und ja: Ich habe geweint. Und gelacht. „Das mal berührende, mal lustig-skurrile Fabulieren beherrscht Vea Kaiser wie keine Zweite.“ (SZ)
(Als ich mit der Lektüre fertig war, habe ich direkt ihr Vorgänger-Buch gelesen und fand es ebenso hinreißend: Makarionissi oder: Die Insel der Seligen.)

Tanja Kokoska, Juli verteilt das Glück und findet die Liebe (Heyne): Ein schlimmer Titel, ein grässliches Cover ... aber ein tolles Buch! Wer halbwegs regelmäßig in die taz oder die Frankfurter Rundschau schaut, weiß, dass die Autorin Satire und Feuilleton kann, und wer ihr neues Buch liest, hat ein paar ausgesprochen schöne Stunden. Ich mag dieses Aus-der-Zeit-Gefallene einfach!

Michel Birbaek, Das schönste Mädchen der Welt (Blanvalet): Ich bin befangen, weil ich Michel schon so lange kenne und sehr mag ... aber egal. Ein Buch von ihm, das ich nicht gerne lese, wird es nie geben. Da können ihn die Frauenzeitschriften tausendmal als „besten Beziehungsstoryteller Deutschlands“ preisen, ich finde ihn trotzdem gut. Und Das schönste Mädchen der Welt ist eben nicht nur eine herzerwärmende Liebesgeschichte, sondern auch eine Verneigung vor sowie eine Hommage an Prince. (Und wenn man nach der Lektüre „Sometimes it snows in April“ tatsächlich nochmal mit völlig neuen Ohren hört, hat ein Buch viel erreicht.)

Thommie Bayer, Das innere Ausland (Piper): Ich habe schon lange kein Buch mehr von Thommie Bayer gelesen. Was ein Fehler war, wie ich jetzt wieder weiß.
Ein Haus in Südfrankreich, ein alter Mann, die unbekannte Tochter seiner plötzlich verstorbenen Schwester. Und die Frage, ob sich ein verpasstes Leben nachholen lässt. In diesem zarten Roman lautet die Antwort: Ja.

II) BÜCHER, DIE DAS (SCHLECHTE) ENDE DER WELT BESCHREIBEN, DESWEGEN GERN IN DER (NAHEN) ZUKUNFT SPIELEN UND OFT AN SIBYLLE BERG ERINNERN (was auch daran liegt, dass eines davon aus ihrer Feder stammt)

Sibylle Berg, GRM. Brainfuck (Kiepenheuer & Witsch): Ja, das neue Buch ist so gut, wie alle sagen. Es spielt im England der fortgeschrittenen 2020er-Jahre, die Überwachungsdiktatur ist perfekt, es herrschen Autokratie, Algorithmen, Brutalität und die totale Langeweile. Vier Kids versuchen sich in einer Revolution ... und natürlich ist das alles kaputt und ausweglos, aber es hilft ja nichts. Wenn wir nicht aufpassen, ist Bergs Welt tatsächlich die Welt von Morgen und „Humanismus“ nur noch ein „Wort, bei dem die meisten an eine App denken, die Hundegesichter auf die dämlichen Fotos ihrer dämlichen Gesichter legt“. Immerhin wird man schon nach 200 Seiten mit der Theorie beschenkt, laut der die Eliminierung von Testosteron 90% der Weltprobleme lösen würde, und glaubt sie sofort. Und mit Perlen wie dieser: „Alles, was die Kinder wussten, hatten sie aus dem Netz gelernt [...] Sie hielten ADHS nicht für eine Krankheit, die Alten waren einfach unerträglich langsam.“

Helene Hegemann, Bungalow (Hanser): Auch in Helene Hegemanns aktuellem Roman liegt die Welt in Trümmern – mit dem Unterschied, dass hier die Tyrannei der Angst tatsächlich in einem Krieg kulminiert.
„Ich hätte als Reaktion ein paar Autos anzünden können oder in irgendeinem Bereich überehrgeizig werden können, Biologie zum Beispiel oder Zeichnen oder Rechtsextremismus. Stattdessen entwickelte ich einen zerstörerischen Hass gegen mich selbst und meine Mutter.“
Die Geschichte verliert (glücklicherweise!) an ihrer dystopischen Wucht, weil sie in Rückblenden erzählt wird – von der frühen Kindheit mit der trinkenden und psychotischen Mutter bis zur späten Jugend, in der die Ich-Erzählerin vorwiegend mit dem chaotischen Schauspielerpaar, welches ins Viertel gezogen ist, vögelt. Und so lässt sich Bungalow letztlich als Familienroman lesen, aus einer Zeit freilich, in der so etwas wie „Familie“ nicht mehr existiert und existieren kann. Doch es bleibt die Hoffnung, „dass es in der Welt noch was anderes gab als Wurstfabriken und Gottesdienste“.

Max Scharnigg, Der restliche Sommer (Hoffmann und Campe): Ehrlich gesagt, hätte ich nicht damit gerechnet, dass sich Max Scharnigg nach Die Besteigung der Eiger-Nordwand unter einer Treppe (mein absolutes Lieblingsbuch 2011) und Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau (siehe Literatur-Tipps 2013/14) nun an eine Sciene-Fiction wagt. Und ich will nicht leugnen, dass die Passagen über den gechippten Menschen, den Überwachungsstaat und das Bonus-System für „gutes Leben“ (wie es derzeit in China Realität wird) zu den schwächeren gehören. Aber immer, wenn der Autor ins Erzählen kommt (und das ist der überwiegende Teil des Romans), ist es einfach nur ein Genuss. Da fließt eine Geschichte von Liebe und Unbehagen vor dem inneren Auge vorbei und man erfährt von Menschen, die so schüchtern sind, dass sie „nicht mal auf der Hälfte der Klassenfotos von damals zu sehen [waren].“ Schön!

Lydia Haider, Am Ball. Wider erbliche Schwachsinnigkeit (Redelsteiner Dahimène Edition): Die junge österreichische Autorin erlangte in letzten Jahren dadurch Aufsehen, als sie sich mit Stefanie Sargnagel und anderen in der feministischen und linken Burschenschaft „Hysteria“ zusammenschloss und das „männliche, weiße Wien“ rockte, dass alles zu spät war. Zentrum des anarchistischen Protestes war (und ist) vor allem der von FPÖ und farbentragenden Hochschulkorporationen alljährlich ausgerichtete Akademikerball in der Wiener Hofburg. Und um den geht es auch in Haiders schmalem Band, der streng genommen nicht in diese Rubrik gehört, weil er nicht dunkle Zukunftsmusik ist, sondern traurige Gegenwart (aber so ist das, wenn eine rechtsextreme Partei Regierungsverantwortung trägt).
Der Inhalt ist schnell erzählt: Eine junge, namenlose Frau schummelt sich auf das Hochfest der Rechten und des Adels und nach 80 Seiten quillen die Ballsäle über vor Blut und außer der Heldin ist niemand mehr am Leben. Man muss eine solche Literatur nicht zwingend mögen, aber Lydia Haider gelingt tatsächlich eine exakte, und mit guten Fotografien angereicherte, Beschreibung der Widerlichkeit dieser Feier und: sie kann Splatter. Da knacken die Knochen, dass man es hört, da zerplatzen die Köpfe, dass man wegsehen möchte ... „O, wie herrlich das auseinanderstirbt!“ Dem Wiener Kleinstverlag RDE sei gedankt, dass er dieses Buch möglich gemacht hat und dem Feuilleton sei ins Stammbuch geschneuzt: Es gibt einen weiblichen Tarantino!

III) DIE BEIDEN WIRKLICH UND UNUMSTÖßLICH LUSTIGSTEN BÜCHER DES LEKTÜREJAHRES (egal, was die anderen sagen – es ist so!)

Julius Fischer, Ich hasse Menschen. Eine Abschweifung (Voland & Quist): Man glaube mir einfach, dieses Buch ist sagenhaft komisch.
Klappentext: „Julius Fischer hasst Menschen. Das fängt bei Kindern an. Pubertät geht auch gar nicht. Noch ätzender sind eigentlich nur Studenten. Und natürlich Berufstätige. Die sind am schlimmsten. Aber nichts im Vergleich zu Rentnern. In seinem neuen Buch erzählt er davon, wie er versucht, all diesen Leuten aus dem Weg zu gehen. Und wie er daran scheitert.“
Lieblingssatz: „Ein Nazi in einem Keller ohne Internet ist nur ein Nazi in einem Keller.“

Matto Kämpf, Tante Leguan (Der gesunde Menschenversand): „Wir sind die Kulturredaktion. Lena, Hans und ich. Lena schreibt über Kunst, Hans über Film und ich über Musik. Literatur müssen wir alle. Tanz hassen wir alle. Musicals versuchen wir totzuschweigen. Vor Opern bekiffen wir uns und kritzeln kichernd wirres Zeugs in unsere Notizblöcke.“
Und dann erhalten die drei eine selbst gebrannte CD der chinesischen Punkband „Tante Leguan“ und es entwickelt sich die komischste Geschichte des Jahres, ach was: des Jahrzehnts. Und zwar des letzten und des kommenden. Matto Kämpf ist der Meister aller Klassen und sein erster Roman unterstreicht das nicht nur, er überbietet es.
Lieblingssatz: „An den Donnerstagen betrinken wir uns besonders heftig. Aus Trotz. Weil noch der Freitag kommt.“

Ob es mir irgendwann gelingen wird, mich an die mir selbst auferlegte Beschränkung der jährlichen Lektüre-Empfehlung zu halten? Maximal fünf Din-A4-Seiten (oder 16.000 Zeichen) war der Plan. Der wieder nicht funktioniert hat. – Also zum guten guten Schluss und auf die Schnelle noch eine schnöde Auflistung von zwei letzten Büchern, weil sie wirklich grandios sind. Und eine Zusatz-Empfehlung. Und – ok – ein Bonus-Track.

Thorsten Schulz, Skandinavisches Viertel (Klett-Cotta)
Jens Steiner, Mein Leben als Hoffnungsträger (Arche)

Karl-Heinz Ott, Und jeden Morgen das Meer (Hanser): Wie die vorgenannten Romane ist auch der neue von Karl-Heinz Ott schlicht und ergreifend wunderbar. Nicht zuletzt, weil er in wenigen Zeilen ganze Welten entstehen lässt: „Gestern hat man einen Metzger ins Gefängnis gesteckt, nachdem entdeckt worden ist, dass er regelmäßig Schafe gestohlen hat, bei Nacht und Nebel. Auf die Frage, was ihn dazu gebracht hat, soll er geantwortet haben: Weil meine Mama tot ist.“
Und weil er einen Satz enthält, mit dem ich die diesjährigen Literatur-Tipps beschließen möchte, weil er das Zeug dazu hat, uns durch die Unbillen der Gegenwart zu tragen: „Nicht mehr beim Anblick des einen Gewässers ein anderes vermissen. Nichts mehr vergleichen. Nur noch streunenden Hunden am Strand nachschauen.“

Bonustrack: Jeff. Über den ersten Roman von Luke Wilkins.

 

LITERATUR-TIPPS 2018

Mariana Leky, Was man von hier aus sehen kann (Dumont): „Ach wäre die Literatur doch immer so: traurig, komisch, fantasievoll und geistreich. Ein ganz und gar wundervoller Liebesroman!“ Diese zwei Sätze stehen in meinen Lektüreempfehlungen 2010 und ich meinte damit Mariana Lekys Roman Die Herrenausstatterin. Auf die Gefahr hin, mich sowohl zu wiederholen als auch Eulen nach Athen zu tragen (weil ihr aktuelles Buch bald ein Jahr lang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste steht und keine weiteren Anpreisungen mehr benötigt), die Sätze haben wieder Bestand und gelten bis auf Weiteres uneingeschränkt (auch für das phänomenale Hörbuch, gelesen von Sandra Hüller).
Selma, eine alte Westerwälderin, kann den Tod voraussehen. Immer, wenn ihr im Traum ein Okapi erscheint, stirbt am nächsten Tag jemand im Dorf. Unklar ist allerdings, wen es treffen wird. Davon, was die Bewohner in den folgenden Stunden fürchten, was sie blindlings wagen, gestehen oder verschwinden lassen, erzählt diese Geschichte. Und wie sie es tut, verdient es, sensationell genannt zu werden. Da ist die Ich-Erzählerin Luise (Selmas Enkelin), deren Liebe die Kraft hat, Tausende Kilometer zu überbrücken und Einrichtungsgegenstände zu Bruch gehen zu lassen, da ist der Optiker des Dorfes, dessen stille Verehrung für Selma durch 80 Jahre trägt, da ist das von der ersten bis zur letzten Seite eingelöste Versprechen von der „unbedingten Anwesenheitspflicht im eigenen Leben“, da ist ... ach, genug. Ich schließe mich Rüdiger Safranski nur ungern an, aber diesmal hat er Recht: Was man von hier aus sehen kann „ist ein Triumph der Literatur“ und mein absolutes Lieblingsbuch 2018.

Nicol Ljubic, Ein Mensch brennt (dtv): Wäre dieses Buch ein Film, so würde er effektheischend mit „eine bestürzende, wahre Geschichte“ beworben oder zumindest mit dem Label „nach einer wirklichen Begebenheit“ etikettiert. Das Problem daran ist allerdings, dass kaum einer diese Geschichte kennt. Mal ehrlich: Wem ist der Name „Hartmut Gründler“ ein Begriff? Petra Kelly, ja, die Friedensaktivistin und GRÜNEN-Gründerin kennt man, vielleicht noch Klaus Bölling, Kanzleramtsminister unter Helmut Schmidt, mit beiden stand Gründler in den 1970er Jahren in regem brieflichem Kontakt (ungeahnt zart im ersten Fall und bis ins Groteske ideologisch verzerrt im zweiten). In aller Kürze: Hartmut Gründler war ein im Umweltschutz engagierter, schwäbischer Lehrer, der sich im Deutschen Herbst (genaugenommen am 16. November 1977, während des SPD-Parteitages) aus Protest gegen die Atompolitik der Regierung Schmidt mit Benzin übergoß und anzündete. Er starb fünf Tage später, es war die erste „politische Selbstverbrennung“ in der Geschichte der BRD.
Hieraus einen packenden, genauen, provokanten, berührenden und stellenweise sogar komischen Roman zu machen ist gleichermaßen ein Verdienst wie eine Sensation. Nicol Ljubic hat Jahre gebraucht, um den Schlüssel für das Erzählen dieses Buches zu finden und er liegt in den ersten drei Sätzen des Romans: „In den Wochen nach Fukushima hatte meine Mutter einen ausgeprägten Drang, mit mir über Hartmut zu reden. Heute ist mir klar, dass sie Abschied nahm, und zwar anders, als sie mich glauben machte. Sie verabschiedete sich nicht, wie ich gehofft hatte, von Hartmut, sondern vom Leben.“
Der Clou von Ein Mensch brennt ist, den unbeugsamen Politkämpfer bei der biederen Familie Kelstenberg einziehen zu lassen, wodurch das Leben der Kelstenbergs auf den Kopf gestellt wird. Während der Vater „den Spinner im Keller“ belächelt, verfällt die Mutter dem Idealisten Gründler mehr und mehr, begleitet ihn auf Demos, steht ihm bei seinem Hungerstreik bei, wird zu seiner rechten Hand. Zwischen allen Fronten: Sohn Hanno, der als Erwachsener zu verstehen versucht, was ihm als Kind widerfuhr und wie ein vermeintlich selbstloser Mensch seine Familie zerstören konnte. Es gibt in der jüngeren deutschen Literaturgeschichte nicht wenige Bücher, die sich auf die „Suche nach der Mutter“ begeben, dieses ist das Beste – und vieles, vieles mehr. Mein zweites absolutes Lieblingsbuch 2018.

Eshkol Nevo, Über uns (dtv): Mein drittes absolutes Lieblingsbuch 2018 ist der neue Roman des wunderbaren Eshkol Nevo. Hatte der Autor in Vier Häuser und eine Sehnsucht noch Juden und Palästinenser, ja „eigentlich ganz Israel in die kleine, überfüllte, pulsierende Blase einer Straße gepresst“, wie die Zeitung Ha’aretz schrieb, so reichen ihm nun drei Appartements in einem tristen Tel Aviver Vororthaus, um aus der Schilderung der Bewohner eine ganze Welt entstehen zu lassen.
„Es passiert etwas, und ich kann niemandem davon erzählen. Aber ich muss, muss es einfach jemandem erzählen.“ Dieses Diktum gilt für jeden der drei Erzähler, sowohl für Arnon aus dem Erdgeschoß, der seit der Schwangerschaft seiner Frau Ayelet Probleme mit dem Sex hat (weswegen das Paar die kleine Tochter regelmäßig von den Nachbarn beaufsichtigen lässt, damit „die Dinge wieder ins Lot kommen“), als auch für Chani aus dem ersten Stock, die von allen nur „die Witwe“ genannt wird, weil ihr Mann ständig auf Geschäftsreise ist, als auch auch für die ehemalige Richterin Dvorah in der obersten Etage, die jede Nacht davon träumt, ihr Über-Ich werde amputiert.
Wie Nevo es allerdings schafft, Menschen zu Wort kommen zu lassen, die normalerweise schweigen und in ihrer Einsamkeit, Enttäuschung und Schuld unterzugehen drohen, ist schlicht großartig. Es gelingt durch eine Erzählkonstruktion, die ich in diesem Grad der Perfektion noch nie gelesen habe: vermeintlich Unaussprechliches wird konsequent in der direkten Ansprache, in der „Du-Perspektive“, geschildert. Arnon erzählt seine Abgründe einem Freund an der Bar (nur weiß man nichts über diesen Freund, noch nicht einmal, ob er überhaupt existiert), Chani breitet ihren Kummer in einer endlosen E-Mail an eine Freundin aus (ob sie sie abschickt, steht in den Sternen) und Dvorah spricht ihr Leiden an sich und der Welt ihrem toten Mann auf den Anrufbeantworter (auf dem dessen Stimme noch gespeichert ist, der aber alle zwei Minuten abschaltet).
Dass sich Freuds Etagen-Modell aus der „Enzyklopädie der Ideengeschichte“ wie eine Blaupause über den Roman stülpen lässt, ist ein „Extra-Zuckerl“, wie der Wiener sagt, das Buch aber ist nichts weniger als ein wunderbares Geschenk, mit dem man nie und nimmer gerechnet hat.
P.S. Und um die Begeisterung für Eshkol Nevo noch zu steigern: sein 2010 erschienener Roman Wir haben noch das ganze Leben (der mit der Weltmeisterschaft Frankreichs 1998 einsetzt), ist eines der drei Bücher, die ich auf die einsame Insel mitnehmen würde.

Jakob Hein, Die Orient-Misson des Leutnant Stern (Galiani Berlin): Um mein viertes absolutes Lieblingsbuch 2018 zu preisen, muss ich aus leider aktuellem Anlass einen Exkurs machen: Den Sport- und Geschichtslehrer Bernd Höcke und ein paar andere Revisionisten einmal ausgenommen, herrscht unter HistorikerInnen Einigkeit darüber, dass sich die deutsche Militärführung im Ersten Weltkrieg einen (aus heutiger Sicht absurd klingenden) raffinierten Schachzug einfallen ließ: Um den Krieg möglichst rasch zugunsten Deutschlands zu entscheiden, sollte der damals verbündete türkische Sultan dazu bewegt werden, den Dschihad auszurufen. Würden sich alle Muslime (vor allem die in den Kolonien), im „Heiligen Krieg“ gegen die britischen und französischen Gegner erheben, müsste die Schlacht schnell entschieden sein. So der Plan, so weit, so bekannt.
Weniger bekannt sind die „geheimen Militäraktionen“, die sich der Militärstab Wilhelm II. zu diesem Behufe hat einfallen lassen, und von einer dieser Aktionen erzählt Jakob Hein in seinem neuen Buch.
„Manche Geschichten“, so der Autor selbst, „würde einem der Leser nicht abnehmen, weil sie zu fantastisch, zu bizarr und zu konstruiert klingen. Aber diese Geschichte ist so passiert.“
Um die Gunst des Sultans zu gewinnen, soll eine Gruppe von vierzehn muslimischen Kriegsgefangenen aus Berlin möglichst unauffällig nach Konstantinopel geschmuggelt werden, um sie dort – in einer medienwirksamen Inszenierung – freizulassen. Betraut mit dieser Operation wird der jüdische (!) Leutnant Edgar Stern, und nicht nur er weiß, dass es (auch) damals keine einfache Sache war, vierzehn exotisch anmutende, junge Männer ohne größeres Aufsehen mit der Bahn durch verschiedene Länder zu schleusen (die teilweise alles andere als klar auf deutscher Seite standen). Es ist Sterns Chuzpe und seiner genialen Idee, die Gefangenen als Zirkustruppe zu tarnen, zu verdanken, dass diese Reise nicht schon an den Grenzen Österreich-Ungarns oder Rumäniens endet. Wie sie endet (und wie das später mit dem Dschihad funktionieren wird), darf nicht verraten werden.
Wohl aber, dass Jakob Hein aus einer kuriosen historischen Vorlage einen großartigen, so witzigen wie ernsthaften Roman gemacht hat. (Sensationell die Passage, in der die deutsche Diplomatie die türkischen Verbündeten erst auf jene Sure im Koran aufmerksam macht, die eine „weite“ Auslegung des „Heiligen Krieges gegen die Feinde des Islam“ ermöglicht!)
Sprachlich genau und hinreißend gebaut, erzählt Jakob Hein die schönste Abenteuergeschichte des Jahres. Ein Roman, der ein interessantes Licht auf die lange Geschichte des deutsch-türkischen Verhältnisses wirft. Ein Roman – dies den „Heimat-Ministern“ und „Wieder-stolz-sein-Wollern“ ins Stammbuch – zur rechten Zeit.

Takis Würger, Der Club (Kein & Aber): Es mag verpönt sein, die Biografie des Autors für die Einordnung seines Werks heranzuziehen, bei diesem Debut-Roman aber drängt sie sich einfach auf: Da geht ein 28jähriger SPIEGEL-Reporter nach England, um an einer Elite-Uni Ideengeschichte zu studieren. Dort boxt er als Schwergewicht für den „Cambridge University Boxing Club“ und wird Mitglied in verschiedenen studentischen Clubs. Und was er von dort mitbringt, ist ein schmales, spannendes Buch, das man – wie Benjamin von Stuckrad-Barre zurecht sagt – „zum Freund haben will.“
Auch die Hauptfigur Hans Stichler ist Boxer und bekommt ein Stipendium für Cambridge – als Gegenleistung dafür soll er Mitglied im elitären Pitt Club werden und ein Verbrechen aufklären. Es ist nicht schwer zu erraten, dass hinter den alten Mauern der britischen Oberschicht nicht nur snobistische Bräuche, sondern vor allem die Ungeheuerlichkeit eines rituellen sexuellen Missbrauchs lauern, aber Würgers Buch ist so schlau konstruiert, so schnörkellos, polyperspektivisch geschrieben und derart schnell und virtuos geschnitten, dass man die Geschichte wie einen Film (der derzeit tatsächlich gedreht wird) ständig vor Augen hat; bleiben die Macher nah an der Vorlage, wird es ein sehr guter Film werden!
Es sind harte, schwarze, zarte 240 Seiten, deren Lektüre unbedingt lohnt – „über eine unterschätzte menschliche Sehnsucht: Rache.“ (Johanna Adorján). Mein fünftes absolutes Lieblingsbuch 2018.

Zwischenbemerkung: Wie stets ist mir die Anpreisung meiner Lieblingsbücher lang geraten, deswegen möchte ich ausdrücklich darauf hinweisen, dass ich auch die nun folgenden – und in gebotener Kürze – vorgestellten Werke samt und sonders mit größter Freude gelesen habe; überhaupt war mein Lektüre-Jahr 2017/18 etwas „Bestseller-lastig“, aber was soll ich machen, wenn die Bücher trotzdem zum Niederknieen gut waren? Ich kann mich nur wiederholen: Die hier aufgelisteten Publikationen waren ausnahmslos Balsam für Seele, Herz und Hirn.

Robert Menasse, Die Hauptstadt (Suhrkamp): Ja, dieser Roman hat den letztjährigen Deutschen Buchpreis völlig zurecht gwonnen. Und ja, dieses Buch ist wirklich der lang erwartete „große europäische Roman“. Und nein, mit der „Hauptstadt“ ist nicht Berlin, sondern Brüssel gemeint. Eine kluge, sensationelle Geschichte, hervorragend recherchiert und im besten Sinne „amerikanisch“ geschrieben. Ein Muss! (Erneut aufgrund von Gründen sei erwähnt, dass Robert Menasse nicht nur als Romancier, sondern auch als Essayist furios ist, ich empfehle die Lektüre seines so provokanten wie bedenkenswerten Textes Grenzen abschaffen und laufen lassen, der bereits Anfang 2016 in „Le Monde diplomatique“ erschienen ist und nichts von seiner Aktualität eingebüßt hat.)

Wilhelm Genazino, Kein Geld, keine Uhr, keine Mütze (Hanser): Ich lese jedes Buch des Meisters und bin jedes Mal noch Tage später glücklich. Warum? Vielleicht wegen Sätzen wie diesen: „Ich schlug den Weg zum Amtsgericht ein, obwohl ich dort nichts zu tun hatte. Aber ich sah gerne, wenn Angeklagte das Gericht verließen und ihr Gesicht voller Freispruch war.“

Robert Seethaler, Das Feld (Hanser Berlin): Zum Zeitpunkt der Niederschrift Platz 1 der SPIEGEL-Bestsellerliste. Vielleicht könnt ihr Euch das Buch ja von jemandem leihen und das gesparte Geld in den Kauf eines weniger bekannten Werkes investieren? Lesen müsst ihr Das Feld dennoch. „Wenn die Toten auf ihr Leben zurückblicken könnten, wovon würden sie erzählen?“ Ginge es nach mir, dann erzählten sie genau diesen einfach nur wunderbaren Roman.

Lucy Fricke, Töchter (Rowohlt): Und nochmal Bestsellerliste, derzeit Platz 19. Ein Roadmovie zweier Frauen „in der Mitte ihres Lebens“, immer tiefer hinein in die Geschichte der eigenen Abgründe. Ein aufrichtiger Roman, voller Volten und mit einem Humor aus Notwehr: „>Was soll das eigentlich werden<, fragte ich. >Thelma und Louise?< >Die waren jung, sexy und unterdrückt<, sagte Martha. >Wir sind nicht mal unterdrückt.<“

Alexander Schimmelbusch, Hochdeutschland (Tropen): Es ist einigermaßen seltsam, dass bislang noch niemand auf die naheliegende Idee kam, einen Roman über die Möglichkeit eines „Links-Populismus“ in Deutschland zu schreiben. Alexander Schimmelbusch, ehemaliger Investmentbanker in London, hat dieses Unterfangen gewagt und gewonnen.
„Es war nicht so, dass er etwas gegen Reiche hatte, man konnte ihn ja selber nur als reich bezeichnen. Aber Victor konnte spüren, dass die einfachen Deutschen mal wieder Gelegenheit bekommen mussten, sich im Gleichschritt zu verlieren.“
Ein kluges Buch über die deutsche Seele im Spätkapitalismus.

Milena Michiko Flašar, Herr Kato spielt Familie (Wagenbach): Frisch im Ruhestand lässt sich die Hauptfigur von einer obskuren Agentur mal als Opa, mal als Exmann, mal als Vorgesetzter engagieren und trifft auf fremde Menschen und Schicksale. Der Autorin des grandiosen Romans Ich nannte ihn Krawatte (mein absolutes Lieblingsbuch 2012) ist eine wundervolle und zarte Geschichte über unerfüllte Träume und einen späten Neuanfang geglückt.

Klaus Bittermann, Der kleine Fup (Edition Tiamat): Bei so genannten „Vater-Sohn-Büchern“ ist höchste Vorsicht geboten, in neun von zehn Fällen geraten sie zu peinlichen Nabelschauen erzählmüder „Schreibtsch-Väter“ (Wiglaf Droste).
Klaus Bittermanns Der kleine Fup ist der zehnte Fall. Und der zwanzigste und dreißigste gleich mit. Jede einzelne der siebzig Miniaturen dieses Bandes enthält mehr Welt und Wahrhaftigkeit als ein ganzer Stapel Kolumnen-Bände. So kann man es machen! Der kleine Fup ist ein gescheites, anrührendes und wunderbar komisches Werk, es ist „Der kleine Nick“ der Gegenwart.

Herrjeh, die mir selbst auferlegte Beschränkung der Literatur-Tipps liegt bei maximal fünf DinA 4-Seiten – und ich bin schon auf der fünften Seite! Dann müssen es jetzt Auflistungen tun. Aber trotzdem und bitte, alle im Folgenden nur schnöde aufgezählten Titel habe ich mit Freude gelesen kann sie uneingeschränkt empfehlen:

Liste der Bücher aus dem Bereich der sogenannten „komischen Literatur“ (ja, ich musste lachen! Oft laut!):
Wiglaf Droste, Kalte Duschen, warmer Regen (Edition Tiamat)

Friedemann Weise, Die Welt aus der Sicht von schräg hinten (Ullstein)
Bernd Gieseking, Früher hab ich nur mein Motorrad gepflegt (Fischer):
Dieses Buch ist nicht nur sehr lustig, sondern auch wundervoll warmherzig und anrührend!
Tex Rubinowitz, Irma (Rowohlt)
Tex Rubinowitz, Lass mich nicht allein mit ihr (Rowohlt):
Ja, ich weiß um die Plagiate in den Büchern des Bachmann-Preis-Gewinners von 2014. Und nein, sie sind trotzdem sehr gut. Also die Bücher.

Liste der Sachbücher, die mich nachdenken ließen und mir Mut machten:
Harald Welzer, Wir sind die Mehrheit. Für eine offene Gesellschaft (Fischer)

Heribert Prantl, Gebrauchsanweisung für Populisten (Ecowin)
Christian Springer, Wir müssen Freiheit aushalten (c.s. wort)

Liste der Bücher aus dem Bereich der sogenannten „Unterhaltungsliteratur“ (wobei ich die Betonung hier stets auf „Haltung“ und „Literatur“ lege):
Jackie Thomae, Momente der Klarheit (Fischer)

Lynsey Lee Johnson, Der gefährlichste Ort der Welt (dtv)

Lynne Sharon Schwartz, Alles bleibt in der Familie (Kein & Aber)

Castle Freeman, Der Klügere lädt nach (Nagel & Kimche)

Siina Tiuraniemi, Frischluftvergiftung bei Minus 20 Grad (dtv)

Tilman Ramstedt, Morgen mehr (Rowohlt)

Sebastian Lehmann, Parallel Leben (Voland & Quist)

So, die fünf Seiten sind voll und auf dem Stapel liegen noch sechs weitere Bücher; sechs umwerfende Bücher von sechs fantastischen Autorinnen. Ich schlage einen Kompromiss vor: Bei dreien (die ohnehin teils älteren Datums und teils bereits Weltbestseller sind) klaue ich für die unbedingte Anempfehlung kurze Pressestimmen (die ich vollumfänglich teile), bei den anderen dreien schreibe ich selbst ein paar Zeilen. Einverstanden? Was soll’s, wird das diesmal eben ein bißchen länger ... die Bücher sind es wert.

Jenny Erpenbeck, Geschichte vom alten Kind (btb): „Es gibt Geschichten, die wird man nie mehr los.“ (Der Spiegel)

Virginie Despentes, Das Leben des Vernon Subutex (Bd. 1 und 2; Kiepenheuer & Witsch): „[...] ein ähnlich beeindruckendes Gesellschaftstableau ... wie Balzac in seinen Romanen.“ (Süddeutsche Zeitung)

Judith Kuckart, Dass man durch Belgien muss auf dem Weg zum Glück (btb): „Es gibt wenige, die sich an Sinnfragen so zielsicher heranzuschreiben wagen wie Judith Kuckart.“ (Die Zeit)

Mercedes Lauenstein, Blanca (Aufbau): Wäre der Vergleich in den Literaturkritiken der letzten Jahre nicht zu inflationär verwendet worden, hier würde er endlich und ohne Wenn und Aber stimmen: Mercedes Lauensteins Blanca ist der weibliche „Tschick“! Ihr zweiter Roman hat alles, was ein großartiger Roadtrip braucht – eine jugendliche Heldin, die existentielle Fragen hat an das Leben und eine Sprache, die niemals Behauptung ist, sondern klar und wild und voller unverbrauchter Bilder. Was für ein Wurf, was für ein Ritt! Die 15jährige Blanca hat es satt, mit ihrer rastlosen, selbstzerstörerischen Mutter von Stadt zu Stadt und von Mann zu Mann zu ziehen und haut ab, um selbst auf Reisen zu gehen. Ihr Ziel: eine kleine italienische Halbinsel, auf der Toni und dessen Vater Karl leben und wo sie – vor Jahren – zum letzten Mal glücklich war.
Geschichten wie diese können schief gehen, weil sie im sattsam bekannten Genre der „Sinnsuche-“ und „Ausreißer-Romane“ wildern, hier aber gelingt einfach alles. Erstens, weil die Autorin ihre Figur ernst nimmt und nichts auslässt, weder den Dreck noch den Hunger noch den Sex. Und zweitens, weil sie sie nicht aufhören lässt, Fragen zu stellen, im klugen Wissen, dass es niemals im Leben einfache Antworten geben wird. „Im Prinzip kann man nur noch irgendwelche Teilchen zusammenstoßen lassen und hoffen, dass sie bei ihrer Kollision in aufschlussreicher Weise kaputtgehen.“
Es ist bedauerlich, dass sich keine der großen Zeitungen dieses grandiosen Buches angenommen hat, und bezeichnend, dass die beiden schlauesten Kritiken im „Missy Magazin“ respektive in einer mittlerweile eingestellten Musikzeitschrift standen: „Jeder Satz sitzt. Der letzte trifft mitten ins Herz.“ (Musikexpress)

Kleine Denksportaufgabe am Rande beziehungsweise als Geschenk an Germanistikstudis, die auf der Suche nach einem Hausarbeitsthema sind, oder an AutorInnen von Pädagogikratgebern: In keiner der guten „Coming-of-Age“-Romane der jüngeren Vergangenheit (Lauenstein, Herrndorf, Lappert usw.) spielt das „Handy“ eine Rolle. Weder besitzen die Heldinnen oder Helden eines, noch wird es für wichtig erachtet, noch wird es überhaupt als „Thema“ erwähnt. Warum wohl nicht? Eben!

Kirsten Fuchs, Signalstörung (Rowohlt Berlin): In ihrer neuen Erzählsammlung wird mieser Kaffee durch Zucker nicht besser, „der Zucker wird schlechter davon.“ Himmel, wie ich diese Frau verehre wegen ihres Ideenreichtums, ihrer Kompromisslosigkeit, ihres unvergleichlichen Stils. „Da ist der Witz ganz dunkel und Ernst ganz hell“, urteilt Bov Bjerg, „Kirsten Fuchs schreibt in einer eigenen Liga.“ Dem kann ich nur zustimmen.
Müsste ich eine der 19 Stories (von denen angenehm wenige bereits vorher in Zeitschriften veröffentlicht wurden) herausgreifen, wäre es die längste des Buches, mit dem rätselhaften Titel „La Schuhkran“. Hierin erzählt die Heldin die so genaue wie komische Reisegeschichte eines Pärchens, das im Jahre 2003 über Weihnachten ein anderes Pärchen besucht. Alle sind Mitte 20. Die Stimmung ist zart und sorglos, erotisch aufgeladen und abenteuerlustig. Der Ort des Geschehens ist eine hippe Metropole: Damaskus in Syrien. Es treibt einem die Tränen in die Augen.
Fazit: Signalstörung gehört auf den Nachttisch. Schleunigst! Und auf die Nachttische aller Freundinnen und Freunde!
„Wir sind mit voller Absicht nichts geworden, und das hat ja auch geklappt. Wir sind nichts geworden und darauf stolz. Das muss man karrieremäßig auch erst mal durchziehen in so einer Welt, wo dich alle drängen, was zu werden.“

Madeleine Prahs, Die Letzten (dtv): Es ist Herbst in einer namenlosen Großstadt und das letzte, unsanierte Haus wird „leergewohnt“. Die verbliebenen drei Mieter stehen vor dem Nichts und stemmen sich gegen die Kündigung: Karl, der Hausmeister, Elisabeth, eine lebensmüde Witwe und Jersey, „eine Studentin in Teilzeit mit Chardonnay-Problem.“
Sie hassen sich gegenseitig bis aufs Blut, aber Schlachten gewinnt nur, wer sich zusammenschließt – und ungeahnte Hilfe erhält. Am Ende blühen die Geranien. Es ist Frühling. Drei sind glücklich. Und einer ist tot.
In der Fülle der derzeitigen „Anti-Gentrifizierungs-Romane“ ragt dieser nicht nur heraus, sondern ist ein einziges, großes Lesevergnügen, vielleicht, weil endlich auch mal das Haus selbst zu Wort kommt. Und weil sich darin Passagen wie diese finden, mit der ich die diesjährigen Literatur-Tipps beschließe und die uns durch die Unbillen der Gegenwart tragen möge: „Nun waren sie drei endgültig verschmolzen. Zu einem einzigen, aufrechten und stolzen Mittelfinger. Jersey atmete tief ein. Gegen die Welt.“

 

LITERATUR-TIPPS 2017

David Grossman, Kommt ein Pferd in die Bar (Hanser): Die beiden bedeutendsten literarischen Stimmen Israels, so heißt es immer, seien die von Amos Oz und David Grossman. Auch wenn ich unbedingt noch die von Eshkol Nevo (siehe unten, Lieblingsbuch 2012) dazurechnen würde, kann ich dem zustimmen. Das neue Buch von David Grossmann allerdings unterscheidet sich so fundamental von seinen bisherigen, dass ich mich dem Kritiker der größten israelischen Tageszeitung, der Ha’aretz, nur anschließen kann: Kommt ein Pferd in die Bar ist „anders als jedes andere Buch von Grossman und jedes andere Buch, das ich je gelesen habe. Es ist ein versteckter Sprengkörper, es weckt heftige Emotionen, mutig und mitreißend...“
Der Roman beschreibt den letzten Auftritt des in die Jahre gekommen Stand-up Comedian Dovele, der mehr auf die Bühne gestossen wird, als dass er sie betritt. „Nun denn, Brüder und Schwestern, seid ihr bereit?“, beginnt er seine Rede, „hier kommt die irrsinnig komische Geschichte über die erste Beerdigung meines Lebens.“ Es ist seine eigene Geschichte, die er erzählt, und das Publikum wird schon nach wenigen Sätzen nicht mehr wissen, ob es weinen oder lachen, bleiben oder fliehen soll. Unter den Zuschauern sitzt auch ein Jugendfreund Doveles, ein pensionierter Richter, der auf Bitten des Komedianten diese eine Mal als Zeuge fungieren soll und so zur Erzählinstanz wider Willen wird. „Einfach nur da sein“, so lautet sein Auftrag, da sein und gut zuhören. „Das, was von einem Menschen ausgeht, ohne dass er Kontrolle darüber hat – das sollst du mir erzählen.“
Der Abend umspannt ein ganzes Leben und er gerät zu einer Abrechnung, die man tatsächlich nicht mehr vergessen kann. Mit „Freundschaft, Liebe und Verrat“ umschreibt der Verlag die Themen der Geschichte, in Wahrheit allerdings geht es um eine niemals heilen könnende Kindheitswunde auf der einen Seite, und um den unbedingten Glauben eines alten Mannes an das Lachen auf der anderen. Bräuchte man Lehrbuch darüber, dass Komik ohne tiefe Tragik bedeutungslos ist, hier ist es. Mein Gott, ist dieser Roman traurig! Und lustig. Zart. Grausam. Schonungslos und gemein. David Grossman hat den renommierten „Man International Booker Preis“ dafür erhalten. Völlig zu Recht! Mein absolutes Lieblingsbuch 2017.

Castle Freeman, Männer mit Erfahrung (Nagel & Kimmche): Eigentlich hätte auch der 2017 auf deutsch erschienene, neue Roman des amerikanischen Grandseigneurs (Auf die sanfte Tour) eine Aufnahme in diese Empfehlungsliste verdient gehabt, aber der Vorgänger gefällt mir noch eine Spur besser: Eine junge Frau, Lillian, wohnt in einem Nest in Vermont, wo neue Nachbarn auch drei Generationen später noch als Fremde gelten. Nicht nur deswegen will und kann ihr der Sheriff nicht helfen, als sie sie sich vom obskuren Bösewicht Blackway (so auch der Titel der Verfilmung mit Anthony Hopkins) bedroht sieht und ihre Katze eines Morgens tot vor ihrer Haustür liegt. „Ziehen Sie weg!“, ist der einzige Rat, den der Sheriff parat hat. Lillian aber gibt nicht klein bei, sondern sucht sich Hilfe bei einem Club kauziger alter Männer, die außer saufen und reden wenig können, aber eines haben sie: Erfahrung. Erfahrung im Umgang mit gefährlichen Arschlöchern. Gemeinsam mit dem steinalten Lester und dem hühnenhaften, etwas beschränkten Nate macht sich Lillian auf die Suche nach Blackway – um ihn zu erwischen, bervor er sie erwischt ...
Ja, das klingt nicht nur nach einem amtlichen Western, das ist einer. Und wären da nicht die unfassbar komischen Gespräche der alten Männer, die der Handlung zwischengeschnitten sind, man könnte schier verzweifeln ob der sturen, dümmlichen und stets gewaltbereiten Borniertheit der Amis. „Eine Waffe ist nur gut, wenn man der Einzige ist, der eine hat“, sagt Lester an einer Stelle, in welchem Zusammenhang er das aber sagt (sowie die Tatsache, dass er diese Wafe natürlich nie gebrauchen wird), unterscheidet diesen Satz so in ziemlich allen denkbaren Belangen von einem Tweet des amtierenden Präsidenten. Und so lässt sich auch nachvollziehen, warum etwa Quentin Tarantino Castle Freeman so verehrt. Es gibt eben doch dieses „andere Amerika, sogar im so genannten anderen Amerika“.
Überbordener Humor, Menschlichkeit und ein klarer Begriff von Richtig und Falsch – das sind die Zutaten für diese grandiose Lesereise. Und nicht zuletzt eine Sprache, wie man sie seit Cormac McCarthy schmerzlich vermisst hat: „Das Fort war nicht die Art von Bar, wo ein frommer Mormone oder Moslem ein Glas Wasser bekommen hätte. Es war nicht die Art von Bar, wo man sich auf dem Weg nach Hause einen Feierabenddrink genehmigte. Es war eher die Art von Bar, wo man sich viele Drinks auf dem Weg zur Arbeit genehmigte, wo man bald darauf gefeuert wurde und den ganzen Tag im Fort verbringen konnte.“ Mein zweites absolutes Lieblingsbuch 2017.

Elisa Albert, Ein Schnitt (dtv): Bei meinem dritten absoluten Lieblingsbuch 2017 war ich mir lange nicht sicher, ob ich es – als Mann – überhaupt anpreisen darf. Was weiß ich denn schon von den Folgen eines ungewollt vorgenommenen Kaiserschnittes? Welche Narben das nicht nur im Gewebe hinterlassen kann? Wie sich das anfühlt, wenn ein Baby das eigene (Frauen-)Leben derart zertrümmert, dass alles zu spät ist? Wenn die preisgekrönte Autorin Elisa Albert ihre Protagonistin abwechselnd verzweifelt, wütend und saulustig sein lässt, und manchmal alles zugleich? Und ihr dann auch noch Sätze in den Mund legt wie diesen: „Ich hatte schon immer Mühe, zwischen Leuten zu unterscheiden, die mich hassen, und Leuten, die mich ficken wollen. Weil es da nämlich, wie mir irgendwann dämmerte, oft erhebliche Übereinstimmung gibt.“
Zum Glück habe ich Ein Schnitt meiner Freundin V. aus Basel zu lesen gegeben und sie hat mir erlaubt, ihr Fazit zu zitieren: „Ich liebe dieses Buch! [...] Es ist frech, es ist derb, es ist zärtlich, es ist rebellisch, es ist berührend, es ist tabubrechend, es ist überraschend, es ist witzig und sehr sehr weiblich. Ich fange es grad wieder von vorne an und alle meine Freundinnen müssen es lesen!“
Und die Freunde auch. Mehr habe ich nicht hinzuzufügen.

Jochen Schimmang, Altes Zollhaus, Staatsgrenze West (Nautilus): Mein viertes absolutes Lieblingsbuch 2017 ist der neue, warmherzige und wunderbar stille Roman des hochverehrten Jochen Schimmang. Seinen Helden, Gregor Korff, kennt man bereits aus dem preisgekrönten Werk Das beste, was wir hatten von 2010, jetzt aber ist der ehemalige Ministerberater in der Bonner Republik zwangspensioniert, gestürzt über die Liebe zu einer DDR-Spionin, und einsam vor sich hinlebend an der niederländischen Grenze. „Jetzt habe ich es geschafft“, so lautet der erste Satz des Buches, „jetzt bin der alte Spinner vom Zollhaus.“ Gregor Korff ist aus der Welt gefallen und nicht auf der Höhe der Zeit, aber genau dieser – selbstgewählte – Abstand schärft seinen Blick. Es braucht nicht viel (zwei seltsame Nachbarn, zwei serbische Kinder auf der Durchreise, der zufällige Kontakt zu zwei jungen Leuten bei einem Kinobesuch), um hinter Beiläufigkeiten Dramen entstehen zu lassen und von den Rändern her ein ganzes Leben zu erzählen. „Wer an der Grenze steht, kommt schnell mal einen Schritt vom Weg ab und gerät auf die andere Seite des Schlagbaums.“ Was hier aber keinesfalls schlimm ist, sondern – im Gegenteil – bereichernd.
Herrschaftszeiten, habe ich diese Geschichte gern gelesen und gelacht, geweint und gestaunt dabei. Altes Zollhaus, Staatsgrenze West ein kluger, subtil komischer Roman über die Freundschaft, das Alter und das Verschwimmen von Zeiten und Grenzen – und einmal mehr der Beweis, wie schwebend und wahrhaftig ein Sommer sein kann, wenn er von einem echten Meister erzählt wird.

Klaus Bittermann, Sid Schlebrowskis kurzer Sommer der Anarchie und seine Suche nach dem Glück (Edition Tiamat): Weil ich aufgrund von Freundschaft und Hochachtung befangen bin, lasse ich – ein weiteres Mal – andere für mich sprechen. So schreibt Robert Seethaler über dieses (ja, auch Jugend-)Buch: „Ich mag diese Ausreißergeschichte sehr, insbesondere, weil sie ja tatsächlich stattgefunden hat.“ Frank Goosen urteilt: „Das Buch durchzieht ein steter Hauch von Anarchie. Bittermann hat ein großes Herz für die Ausgestoßenen, Nicht-Angepassten, die Outlaws. Man wird ganz wehmütig.“ Und Jens Uthoff bringt es in der taz auf den Punkt: „Die Erzählung ist eine Liebeserklärung an die Liebe, an die Jugend, an die Musik des Punk, an die Literatur, an die Mode [...] und hätte es verdient, zu einem Sommerhit zu werden.“
Ach, was soll der Geiz! Weil ich dieses Roadmovie zweier 16jähriger im geklauten Citroen des Vaters derartig schön fand und sich folgende Zeilen ohnehin auf der Homepage der Edition Tiamat finden, kann ich sie auch hier hinschreiben: Wer nicht nur das verlegerische, sondern auch das literarische Schaffen Klaus Bittermanns verfolgt hat, durfte hoffen, dass dieser blitzgescheite Flaneur und Meister der kleinen Form einmal einen Roman schreiben würde; es ist ein leichter, komischer, wehmütiger, ein großer Roman geworden. Unter den vielen, vielen schönen Ausreißergeschichten von „Tom Sawyer“ bis „Tschick“ ist es eine der schönsten!
(Ich weiß, dass dir das peinlich ist, lieber Klaus, aber sieh es mal so: Friedrich Küpperbusch hat, eigenem Bekunden nach, geweint bei der Lektüre „deiner“ Geschichte.) Mein fünftes absolutes Lieblingsbuch 2017.

Zwischenbemerkung: Auch wenn mir die Anpreisung meiner Lieblingsbücher nicht ganz so lang geraten ist wie die im Vorjahr, möchte ich nachdrücklich darauf hinweisen, dass ich die nun folgenden – und in gebotener Kürze – vorgestellten Werke samt und sonders mit größter Freude gelesen habe; ich kann mich nur wiederholen: sie waren ausnahmslos Balsam für Seele, Herz und Hirn.

Klaus Oppitz & die Tafelrunde, Auswandertag (Residenz Verlag): Ja, eine Satire, aber was für eine! Österreich in naher Zukunft: An der Macht ist ein Rechtspopulist, der Ausstieg aus der EU wurde vollzogen, das Land ist bankrott und ausländerfrei. Wie viele andere ist nun auch die Arbeiterfamile Putschek auf der Flucht in das neue Vorzeigeland Europas – die Türkei.
Vier führende (Comedy-)Autoren drehen den Spieß der politschen Gegenwartslandschaft einfach mal um, vergessen dabei nicht, ihre Figuren ernst zu nehmen, und schreiben Geschichte. Grandios!

Andreas Stichmann, Die Entführung des Optimisten Sydney Seapunk (Rowohlt): Auch in diesem Roman geht es um nicht weniger als um die Rettung der Welt. Andreas Stichmann aber schlägt dabei einen anderen, leiseren und grotesken Weg ein. „Was, wenn es eine ganz neuartige Bewegung gäbe? Eine Bewegung, die beides ist: sexy und politisch, eine globale, provozierend optimistische Bewegung, die sagt: Wir lieben die Freiheit! Und die Welt!“ Eine Abenteuergeschichte über Durchtriebenheit und Solidarität. Und die Entführung eines Millionenerben.

Ursula Fricker, Lügen von Gestern und Heute (dtv): Und noch ein dritter Roman, der es wagt, die politischen Geschehnisse unserer Gegenwart Literatur werden zu lassen. Eine Immigrantin, eine Studentin, ein Innensenator – drei Menschen, die sich begeistern und verführen lassen, bis sie von der Wirklichkeit überrascht werden. Eine Erzählung über zu große Ideen und zu kleine Zweifel. Einfühlsam. Genau. Beeindruckend.

Miriam Toews, Das gläserne Klavier (Berlin Verlag): Der neue, große (und erneut großartige) Familienroman aus der Feder von Miriam Toews, der derzeit vielleicht besten Autorin Kanadas. Erzählt wird die Geschichte zweier Schwestern, die eine umjubelte Konzertpianistin, reich, berühmt und glücklich verheiratet, die andere pleite, geschieden und ständig mit den falschen Typen im Bett. Eine der beiden wird irgendwann nicht mehr leben wollen, mit allen Konsequenzen ... Dass dieser Roman gelingt (und zwar ohne Plattitüden und Klischées) ist nicht hoch genug zu würdigen. „Am Ende ist alles gut, und wenn nicht, ist es noch nicht das Ende.“

Wilhelm Genazino, Außer uns spricht niemand über uns (Hanser): Wie jedes neue Buch von Wilhelm Genazino – herausragend und einfach nur genial! Mein Lieblingssatz: „Allein durch meinen Widerwillen gegen Hunde und Fahrräder und Rucksäcke kam ich mir schon vielbeschäftigt vor.“ Oder der: „Vermutlich ahnten die Kollegen, dass ich mit meinem Privatleben nicht mehr ganz einverstanden war.“ Nein, der: „Meine Tendenz zur Lebensaufschiebung war auch der Grund, warum ich mir Tomaten kaufen würde.“ Ach, eigentlich alle ...

Franz Dobler, Ein Schlag ins Gesicht (Tropen): Der zweite Faller-Roman und zum zweiten Mal ausgezeichnet mit dem Deutschen Krimipreis. Hart, ehrlich und phantastisch geschrieben. Was soll’s, ich liebe diesen Mann! Appetizer: „Dann hob er den Arm, zielte auf den Toaster und sagte: Halts Maul, du bist an allem schuld, ich weiß es genau.“

Sarah Schmidt, Weit weg ist anders (Insel Verlag): Hurra, die kratzbürstige, schnoddrige und wunderbare Berliner Rentnerin Edith Scholz (bekannt aus Sarah Schmidts Vorgänger „Eine Tonne für Frau Scholz“, siehe Literatur-Tipps 2013/14) ist wieder da. Diesmal spannt das Schicksal sie mit einer norddeutschen 70jährigen mit einer Vorliebe für Yoga und Handarbeiten zusammen. Wie es Sarah Schmidt allerdings gelingt, diese zwei grundverschiedenen Charaktere in ein absolut glaubwürdiges Road-Movie zu schicken, wie sie es schafft, nie den richtigen Ton zu verlieren, wie sie es hinbekommt, dass sich die beiden Frauen bis zur letzten Seite gegenseitig nicht ausstehen können (und man trotzdem mit beiden mitfiebert) – das alles verdient es, sensationell genannt zu werden. Es ist kein Zufall, dass sich der Insel Verlag im Hause Suhrkamp die Rechte gesichert hat; Unterhaltung mit der Betonung auf Haltung ist das und ein großer Spaß. Und nebenbei enthält dieses Buch mehr an Großstadt-Sound, Einsamkeit und Gentrifizierungsproblematik als die folgenden beiden Werke, die all das explizit zum Thema haben (und auch mehr als lesenswert sind).

Max Küng, Wenn du dein Haus verlässt, beginnt das Unglück (Kein & Aber Verlag): Zugegeben, ich habe dieses Buch wegen des tollen Titels gekauft (und weil ich Max Küng als Kolumnisten des Schweizer „Magazin“ verehre) ... und ich wurde nicht enttäuscht. Die Bewohner eines Hauses werden allesamt gekündigt und aus Nachbarn, die sich kaum gegrüßt haben, wird eine notgedrungene Schicksalsgemeinschaft, inklusive dem Hervortreten ungeahnter Charaktereigenschaften und Obsessionen. Ein feiner, polyphoner Short-Cuts-Roman aus Zürich. (Allein für diese Spitze soll Max Küng hochleben: „Zürich ist eine Finanzmetropole und als solche so was wie ein Arschlochmagnet.“)

Benedikt Feiten, Hubsi Dax. Eine Wirtshauslegende (Voland & Quist): Selbe Ausgangslage (Kündigung), selbes Thema (Gentrifizierung), andere Stadt (München). Und ein anderer, wilderer Plot: Der Held, ein ambitionsloser und rauschorientierter Gitarrenlehrer, erfindet einen berühmten Münchner Wirtshaussänger (der in besagtem Haus gelebt haben soll) und mit dessen Hilfe organisieren die Bewohner ihren Widerstand ... Einen guten Sound hat das alles. Dass der Autor über Musik in Jim Jarmusch-Filmen promoviert hat und als Trompeter und Cellist in der Band „my boys don’t cry“ spielt, merkt man, und das ist auch gut so. Ein starkes Roman-Debut.

Zwischendurch eine kleine Auflistung. Die folgenden vier, von der Kritik allesamt hochgelobten und zum Teil zu Bestsellern avancierten Titel, habe ich mit Freude gelesen und kann sie uneingeschränkt empfehlen:
Kate Tempest, Worauf du dich verlassen kannst (Rowohlt)

Juli Zeh, Unterleuten (Luchterhand)
Sasa Stanisic, Vor dem Fest (btb)

Georg Seeßlen, Trump! Populismus als Politik (Bertz+Fischer)

Michelle Steinbeck, Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch (Lenos Verlag): Ich hätte den Skandal, den Elke Heidenreich Ende letzten Jahres im Schweizer „Literaturclub“ weniger um das Buch als vielmehr um die junge Autorin entfacht hat, nicht gebraucht. Und zwar weder die tatsächlich kritikwürdigen Aussagen der Großkritikerin noch das enthemmte Bashing der literaturaffinen Öffentlichkeit, das darauf folgte. Wer mag, kann das gerne nachlesen (einfach „Heidenreich“ und „Steinbeck“ in die Suchmaschine eingeben und dann in den Artikeln wahlweise der SZ, der FAZ oder dem „Tagesanzeiger“ stöbern); ich empfehle allerdings eher die Lektüre des Buches, mir fallen ganz andere Adjektive als „grauenhaft“ ein, nämlich: Mutig, verstörend, wild, sinnlich, kaputt, traumhaft, großartig – ein Gedicht von einem Erstlingsroman!

Himmel, die mir selbst auferlegte Beschränkung auf maximal fünf DinA 4-Seiten für die Literatur-Tipps ist beinahe erreicht! Diese drei Bücher noch – weil sie einfach so wunderschön sind.

Jochen Schmidt, Zuckersand (C.H. Beck): Ein komischer und berührender Roman über die Suche nach Schönheit, die Melancholie des Verschwindens und das Finden des Glücks. Ein Vater geht mit seinem zweijährigen Sohn Karl spazieren und entdeckt mit ihm die Welt. Sehr viel mehr passiert im neuen Buch von Jochen Schmidt nicht. Und doch passiert alles!
Ich lege mich einfach fest: Derzeit kann dem Berliner Autor in puncto Erinnerungsmacht, Kempowskischer Beschreibungswut, Verschrobenheit und Witz keiner das Wasser reichen: „Seit wir mit Karl leben, überraschen mich meine Angstphantasien. Manche Eltern stecken ihre Kinder in Winteranzüge mit Plüschohren an den Kapuzen, das würde für uns nicht in Frage kommen, weil ein Raubvogel ihn für ein Jungtier halten, vom Himmel herabstürzen und ihn entführen könnte."

Ralf Schlatter, Steingrubers Jahr (Limbus Verlag): Ralf Schlatter, dem mit Sagte Liesegang vor zwei Jahren mein absolutes Lieblingsbuch 2015 gelang, hat ein neues Buch geschrieben, ein Tagebuch-Buch diesmal, und es ist wiederum sensationell geworden. Anrührend, poetisch und extrem witzig. Felix Steingruber, Katzenhalter, Kammerjäger und Junggeselle führt kein spektakuläres Leben, bis ein seltsamer Traum ihn zwingt, ein Jahr lang Tagebuch zu führen. Und dieses Jahr wird einzigartig. Selten wurden Nebensächlichkeiten, Alltägliches, Anekdoten, aber eben auch Glück und Verlust so lakonisch und schön beschrieben wie hier.
Meine Lieblingsstelle: „Mit Mutter im Zoo. Keine Ahnung, warum. Hunderte von anderen Menschen auch im Zoo. Um ein Vielfaches mehr Menschen gesehen als Tiere. Dann habe ich plötzlich angefangen, die Menschen als Tiere zu sehen. Mutter war ein Gnu.“
Nein, die: „Und dann die Geschichte von dem, der sich im Wald draußen erhängen wollte, sich einen Baum aussuchte, den Strick festband und dann doch noch ein letztes Bier trinken ging und noch eins und noch eins, und dann ging er zurück in den Wald und fand beim besten Willen den Baum mit dem Strick nicht mehr.“

Anna Weidenhölzer, Weshalb die Herren Seesterne tragen (Matthes & Seitz): Toller Titel! Tolles Buch! Ein pensionierter Lehrer macht sich auf, herauszufinden, was das Glück sei und fährt dazu, mit einem Fragebogen im Gepäck, in einen schneelosen Skiort ... Der jungen Österreicherin gelingt nicht nur eine meisterhaft geschriebene Geschichte, sondern überdies ein Satz, der uns nicht nur durch den literarischen Sommer, sondern auch durch politschen Herbst tragen möge: „Wir dürfen nicht aufhören, Fragen zu stellen, und wir müssen viele sein.“

 

LITERATUR-TIPPS 2016

Thees Uhlmann, Sophia, der Tod und ich (Kiepenheuer & Witsch): „Was passiert, wenn eines Tages der Tod bei einem klingelt und sagt, dass man nur noch ein paar Minuten zu leben hat?“
Ich habe keine Ahnung. Aber ich weiß, was passiert, wenn ich ein Buch in die Hände nehme, auf dessen Rückseite diese Frage in fetten, roten Lettern geschrieben steht und darunter ein „rasanter, hochkomischer, berührender Roman über all das, was im Leben wirklich zählt“ versprochen wird: Ich lege das Buch erstmal wieder weg! Weil ich das nicht glaube. Weil das nach einem ziemlich ausgelutschten Setting klingt. Und weil es sich bei diesem Buch um den Debutroman von Thees Uhlmann handelt, der sich weder in seinen „Tocotronic Tourtagebüchern“ aus dem Jahr 2000 noch in seinen Liedern (egal ob Solo oder mit der Band „Tomte“) in Sachen Rasanz, Hochkomik oder Anrührung besonders hervorgetan hat ... Ja, schon gut, persönlicher Geschmack, ich weiß, und eine gehörige Portion Hybris meinerseits, gepaart mit Ressentiments dümmlicher Art.
Ich habe meinen selbst verordneten Aufenthalt in der Scham-Ecke zur Lektüre des Buches genutzt und wurde von der ersten bis zur letzten Seite eines Besseren belehrt: Sophia, der Tod und ich ist eine ganz und gar wundervolle Geschichte, ein extrem lustiges Road-Movie und ein wildes, irrsinniges, und, ja, auch berührendes Großstadt-Märchen.
Der Tod klingelt tatsächlich an der Tür des Ich-Erzählers, aber ansatt seinem eigentlichen Auftrag nachzukommen, berichtet er lieber von seinem depressiven Jobprofil und begleitet den Helden auf eine abenteuerliche Reise quer durch die Republik. Mit dabei: die Exfreundin und die Mutter. Das Ziel: der siebenjährige Sohn, den der Erzähler seit Ewigkeiten nicht gesehen hat, dem er aber jeden Tag eine Postkarte schreibt. Es stimmt schon, bei solchen Geschichten kann viel schief gehen, tut es hier aber nicht, zu keinem Zeitpunkt. Weil sich Uhlmann als genauer Beobachter erweist, dem die Volten und Einfälle nie ausgehen, vor allem aber, weil er tatsächlich den Mut zur Beschreibung von „letzten Dingen“ aufbringt. Und er kann das! Es sei nochmal ausdrücklich gesagt: Uhlmann kann schreiben, es gelingen ihm Dialoge, die diesen Namen verdienen, und er besteht sogar in der „literarischen Königsklasse“, der peinlichkeitsfreien Sexszene.
Wer weiterhin dem Vorurteil anhängen möchte, dass Schuster bitte bei ihren Leisten und Musiker gefälligst bei der Musik bleiben sollen, dem sei verraten, dass dieses Thema – die eigentliche Profession des Autors – genau einen Satz lang verhandelt wird; in einem Bild allerdings, das immer schiefer und schöner wird, je länger man es betrachtet: „Musik ist das Telefon Gottes, mit dem er uns anruft, um zu sagen, dass er an uns denkt.“
Auf der Rückseite des Buches findet sich übrigens noch dies – mehr Fazit, denn Bewerbung: „Man liest, lacht, zerfließt vor Melancholie und freut sich, dass man dabei ist, bei dieser großartigen Sache namens Leben.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.
Mein absolutes Lieblingsbuch 2016.
(Dieser Text, sowie die beiden folgenden, erschien unter dem Titel "Letzte Dinge, abseitige Comedy, Las Vegas" am 8.7. 2016 in der Badischen Zeitung.)

einzlkind, Billy (Insel): Bei meinem zweiten absoluten Lieblingsbuch 2016 wusste ich schon vor der Lektüre, dass ich Spaß und Freude haben würde, aber mit einem derartig großartigen Ritt hätte ich nicht gerechnet.
Schon in seinen ersten beiden Romanen hat der Mann bewiesen, dass er der mit Abstand coolste und lustigste Autor deutscher Zunge ist – mit den bekannten Folgen: Huldigungen vom abseitigen Musik-Fanzine bis hin zu Hans Magnus Enzensberger, Bestsellerstatus und wildeste Spekulationen darüber, wer hinter dem Pseudonym „einzlkind“ stecken könnte. Wahr ist, dass das Debut Harold (2010) das erste unverlangt eingesendete Manuskript war, das in der fast 40jährigen Verlagsgeschichte der feinen „Edition Tiamat“ tatsächlich gedruckt wurde und wahr ist weiter, dass der hochverehrte Klaus Bittermann dieses Buch (ebenso wie den Nachfolger Gretchen von 2013) mit Liebe, Chuzpe und Verschwiegenheit zu Erfolg und Ehren führte und nun zu Recht etwas traurig über den Verlagswechsel sein darf. Allerdings ist auch dies die verdammte Wahrheit: Billy übertrifft nicht nur die hohen Erwartungen, sondern sogar seine Vorgänger. Erzählt wird die Geschichte eines schottischen Auftragskillers mit Vorliebe für die Philosophie Nietzsches, der durch die Welt geschickt wird, um Mörder zu ermorden. Wie es sich für einen „hardboiled Krimi“ gehört, lässt er sich von den Opfern vorab deren Lebensgeschichte erzählen und gönnt ihnen einen letzten Musikwunsch. Wie es sich ebenfalls gehört, läuft irgendwann alles aus dem Ruder und Billy wird selbst zum Gejagten. Fulminanter Showdown inklusive. In Las Vegas. Wo sonst.
Diese „pulp fiction“ ist allerdings derart gescheit und umwerfend witzig gebaut, dass man einem der integersten Literaturkritiker dieses Landes, Prof. Erhard Schütz, nur beipflichten kann, wenn er im MAGAZIN konstatiert: „Alles in allem haben wir es mit einem atemberaubend einfallsreichen, sprachlich feinst gelungenen, zugleich abgründig intelligenten Thriller zu tun.“
Ich würde gar weitergehen und behaupten: Gesetzt den Fall, dass Quentin Tarantino je einen Storyliner oder Dialogautor für seine Filme anheuern wollte, er hätte beide schon gefunden; in Personalunion des „geheimnisvollen Bestsellerautors einzlkind“ (Süddeutsche Zeitung), der sich im Gegensatz zu den selbstdarstellenden Pointendrechslern hierzulande angenehmst zurückhält und nichts als seine Texte für sich sprechen lässt. „PENG!“

Miranda July, Der erste fiese Typ (Kiepenheuer & Witsch): Personen, denen dieses Buch gefallen hat, gefällt auch: der Film „Ich und du und alle, die wir kennen“, die Messaging-App „Somebody“ (die Nachrichten nicht elektronisch übermittelt, sondern Menschen in der Nähe sucht, um diese persönlich zu überbringen), desweiteren 20jährige Frauen ohne jede Manieren und mit Schweißfüßen, neurotische Mitvierzigerinnen mit unterdrücktem Kinderwunsch und unerfüllter Liebe zu zwanzig Jahren älteren Arbeitskollegen (die wiederum eine 16-Jährige begehren), sowie außerdem Selbstverteidigungsvideos aus den 80er Jahren, lesbische Coming-Outs, abseitige Comedy, Gewalt unter Frauen, Konzeptkunst und Feminismus. Mit anderen Worten: Nicht alle werden Der erste fiese Typ mögen, für mich ist es allerdings mein drittes absolutes Lieblingsbuch 2016 – und Miranda July seit ihrem Werk Zehn Wahrheiten (das völlig verdient mit dem Frank-O’Connor-Preis, dem höchstdotierten Kurzgeschichtenpreis der Welt, ausgezeichnet wurde) ohnehin eine meine erklärten literarischen Heldinnen. Wer sich und seine Weltsicht mal ordentlich durchschütteln lassen will oder etwas über seltsame Obsessionen, hoffnungslose Liebe, existentielle Einsamkeit, aber auch das ganz große Glück erfahren möchte, der ist bei ihr richtig – in jeder einzelnen Zeile.
Ich kann mich der anbetungswürdigen Lena Dunham nur anschließen: „Noch nie hat mich ein Buch so sehr in meiner Sexualität, meiner Spiritualität, meinem geheimen Selbst berührt wie dieses.“ Wer es lieber lapidar und aus dem Mund eines Mannes hört, der höre auf den Meister aller Klassen, Dave Eggers: „Dieses Buch kann man unmöglich wieder aus der Hand legen.“ Er hat Recht.

Gavin Extence, Das unerhörte Leben des Alex Woods oder warum das Universum keinen Plan hat (Limes Verlag): Vielleicht liegt es daran, dass ich letztes Jahr Die Reise mit der gestohlenen Bibliothek so hochgelobt habe oder, dass diese abstrusen und tollen Coming-of-age-Romane derzeit fast immer aus England kommen ... Auf jeden Fall hat mir die Buchhändlerin des Vertrauens ein weiteres „Buch dieser Art“ angedeihen lassen und mir beste Lesezeit geschenkt. „Bücher dieser Art“ erkennt man daran, dass sie von den Feuilletons ignoriert werden, dass sie trotzdem monatelang die Bestsellerlisten bevölkern und dass die Klappentext-Anpreisung von Christine Westermann stammt: „Es ist eine wunderschöne, leicht bizarre Geschichte, die da erzählt wird. [...] Ein ungemein unterhaltsamer, philosophischer Roman, voller lebenskluger Sätze. Es geht um Leben und Tod. Aber wie das erzählt wird, ist einfach nur ganz großes Kino.“ Frau Westermann spricht wahr; hinzuzufügen wäre allenfalls, dass der Held diesmal wegen seiner Tarotkartenlegenden Mutter und durch das Gestreift-Werden von einem Meteoriten zum Außenseiter wird, dass ihn seine Reise bis zu einer Sterbehilfeorganisation in der Schweiz führt und dass einmal mehr der Beweis erbracht wird, dass Marihuana, Kurt Vonnegut und aufrichtige Freundschaft sehr gute Zutaten für sehr gute Unterhaltung sind.
Obgleich schon 2014 erschienen: mein viertes absolutes Lieblingsbuch 2016.

Roland Schimmelpfennig, An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts (S. Fischer): Mein fünftes absolutes Lieblingsbuch 2016 ist der erste Roman des Bühnenautors Roland Schimmelpfennig. Der meistgespielte Gegenwartsdramatiker Deutschlands, dessen Stücke weltweit in mehr 40 Ländern mit großem Erfolg gespielt werden, schreibt jetzt also auch Prosa. Warum? Weil er es kann! Vielleicht liegt es an der Arbeit am Theater, dass hier jemand mit traumwandlerischer Sicherheit dem Grundsatz folgt, nie etwas zu benennen, das man ohnehin sieht. Tatsache ist: Ich habe schon lang kein Buch mehr gelesen, in dem wirklich nicht ein einziges Wort zuviel steht. Hier weiß einer, dass Adjektive überbewertet sind, dass Weniger immer Mehr ist und dass eine gute Geschichte in erster Line im Kopf dessen entsteht, der sie liest.
Es ist nicht verwunderlich, dass Schimmelpfennig dem Prinzip der „kurzen Schnitte“ folgt, dass er oft in Dialogen und multiperspektivisch erzählt, aber wie er das tut, ist nahe an der Perfektion. Kühl, genau, aufrichtig. An einem klaren, eiskalten Januarmorgen überquert ein Wolf die polnisch-deutsche Grenze und auf seinem Weg nach Berlin kreuzen sich seine Spuren mit den Wegen verschiedener Menschen, deren Schicksale mehr angerissen als „auserzählt“ werden, doch wer auch immer den Wolf erblickt, sieht in ihm die Einsamkeit des eigenen Daseins.
Der Autor enthält sich auf den 250 Seiten jeder Wertung, er folgt lediglich seinen Figuren auf ihrer sehnsüchtigen Suche nach einem anderen Lebens, alleine allerdings lässt er sie nie. Vergangenheit und Zukunft sind in dieser Geschichte schon lange abhanden gekommen, sie ist ausschließlich der Gegenwart verpflichtet und handelt von Kälte, Angst und Verlorensein. Aber vielleicht sind die beschriebenen kleinen Fluchten gerade deswegen so mutmachend – in dieser alles und jeden umfassenden Ausweglosigkeit, die wir Leben nennen? Was für ein schönes, wunderschönes Buch!

Zwischenbemerkung: Wie immer sind die Belobungen meiner Lieblingsbücher länger ausgefallen als die der nun folgenden; was bitte keinesfalls als Wertung verstanden werden soll. Alle weiter – und in gebotener Kürze – vorgestellten Publikationen habe ich mit großer Freude gelesen, sie waren ausnahmslos Balsam für Seele, Herz und Hirn.

Meg Wolitzer, Die Stellung (Dumont): Kinder exzentrischer Eltern haben es immer schwer, aber wenn die Eltern einen – auf dem eigenen, tabulosen Liebesleben basierenden und mit detailreichen Bildern versehenden – Sexratgeber schreiben, und der auch noch zu einem Weltbeseller avanciert, dann wird es richtig bitter. Ein tragikomisches Familienportrait und der Versuch vierer Geschwister, sich in der Welt zu behaupten.

Maggie Shipstead, Dich tanzen zu sehen (dtv): Im amerikanischen Original heißt dieser Roman „Astonish Me“, und exakt das ist gelungen. Ich wurde überrascht, erstaunt und umgehauen von einer Geschichte über Ballett! Ein großartiges Buch über die Liebe, die Leidenschaft und die Lüge eines Lebens, ein Buch wie ein Tanz – aus der Feder der Autorin von Leichte Turbulenzen mit erhöhter Strömungsgeschwindigkeit (2012), das ich auch schon sehr mochte.

Benedict Wells, Vom Ende der Einsamkeit (Diogenes): Würde man voller Begeisterung lediglich die Handlung dieser wundervollen Liebesgeschichte stichpunktartig nacherzählen, man würde zurecht mit „Paulo Coelho im Endstadium“ zwangseingewiesen: Eltern tödlich verunglückt, Kindheit im Internat, große Liebe verloren, große Liebe wiedergefunden, Krebs, noch ein Unfall ... Ja, ich habe geweint beim Lesen. Auch vor Glück.

Silvia Tschui, Jakobs Ross (Nagel & Kimche): Was für ein Debut! Ein Buch von ungeheuerer Wucht und Kraft und ein mutiges dazu: Nicht nur, dass es die Geschichte einer mit unbändigem Willen zum Ausbruch und einer unerhörten musikalischen Begabung gesegneten Magd Mitte des 19. Jahrhunderts erzählt, es ist auch noch in (literarischem) Schweizerdeutsch verfasst. Keine Angst, man versteht das, und der Lohn eines tollen, den magischen Realismus in Ehren haltenden, Romans ist groß.

Joachim Zelter, Der Ministerpräsident, (Klöpfer & Meyer): Wie konnte mir dieses herrliche Kleinod in Buchform 2012 nur entgehen? Der Ministerpräsident von Baden Württemberg hat mitten im Wahlkampf einen Unfall und nun massive Gedächtnislücken. Das Schlimmste: Sein Dialekt ist weg und mit Hochdeutsch wird’s schwierig ... Eine sensationelle, mit großer Leichtigkeit erzählte Satire auf den Politikbetrieb.

Selim Özdogan, Wieso Heimat, ich wohne zur Miete (Haymon Verlag): Bleiben wir in diesem Genre. Dass Selim Özdogan seit nunmehr zwanzig Jahren zu den begnadetsten und produktivsten Romanciers und Geschichtenerzählern in diesem Land gehört, sollte sich mittlerweile herumgesprochen haben. Nun zeigt er, dass er auch in den Olymp der Satiriker gehört. Man lacht und man weint beim Lesen des neuen Romans und erfährt viel über Deutschland und die Türkei, über Erdogan und den Gezi-Park, über Vorurteile, Klischees und religiöse Zuschreibungen. Hier zeigt einer endlich mal, wie das geht, sich abseits des großen „Islamismus“-Schlachtfeldes aufzuhalten und dennoch Haltung zu bewahren. Ein grandios kluges und grandios komisches Buch!

Hannes Ringlstetter, Paris, New York, Alteiselfing. Auf Ochsentour durch die Provinz (dtv): Selbiges, also Haltung, Klugheit und Komik, gilt auch für dieses Buch. Desweiteren: Aufrichtigkeit, Lust und der ungebrochene Wille, sich (frei nach Gandalf Graurock) von nichts und niemandem – und schon gar nicht von der Wahrheit – eine gute Geschichte versauen zu lassen.
Ja, ja, ja, ich bin befangen, weil ich den Mann liebe, aber so und nicht anders möchte ich 25 Jahre Rock’n’Roll in der Provinz und den Komplettwahnsinn eines Lebens auf Tour beschrieben haben.

Volker Surmann, Mami, warum sind hier nur Männer? (Goldmann): Eine frisch verlassene Mutter strandet mit Sohn und Tochter in einem Schwulen-Resort auf Sardinien, und wenn es etwas gibt, was dort nicht geduldet wird, dann sind das Heterosexuelle und Kinder ... Der Kabarettist, Lesebühnenautor und verdienstvolle „Satyr“-Verlger hat nicht nur „sein“ Thema, sondern vor allem auch eine phantastische Stimme gefunden. Politisch, federnd und maximal unterhaltsam.

Andreas Stichmann, Das große Leuchten (Rowohlt): Ich musste erst auf eine Lesung gehen, um endlich diesen restlos gelungenen Debutroman kennenzulernen, der seine Figuren auf abenteuerliche und wundersame Weise aus der deutschen Provinz in den Iran und weiter ans Kaspische Meer führt. Als „Ritter der Erzählung“ hat Katja Lange-Müller Andreas Stichmann bezeichnet und damit noch untertrieben. Herrschaftszeiten, kann der Kerl schreiben! (Ich hätte es wissen müssen, seinen Kurzgeschichtenband Jackie in Silber habe ich vor Jahren wochenlang mit mir herumgetragen, so erschütternd gut war der ...)

Teju Cole, Open City (Suhrkamp): Vom fernen Osten in den weiten Westen und nur damit es schwarz auf weiß hier steht: Wer nach einer Möglichkeit sucht, wochenlang, allein und ohne Ziel durch Manhattan zu streifen, der findet sie in diesem (bereits 2013 publizierten) Roman; gehört für mich zum Besten, das je über das Grundgefühl von New York geschrieben wurde.

Katja Huber, Nach New York! (Secession Verlag): Und noch eine (drei Generationen umfassende) Familiengeschichte aus dem „Big Apple“ – über den Absturz der Hindenburg, über Oskar Maria Graf, Tschechow und Woody Allen, na, über New York eben – Bühne und Sehnsuchtsort in einem.

Dierk Wolters, Die Hundertfünfundzwanzigtausend-Euro-Frage (Weissbooks): Andreas Maier hat über diesen schmalen Band gesagt: „Als hätte ein Martin Walser bei Günther Jauchs Wer wird Millionär mitgemacht, wäre bei einer Literaturfrage rausgeflogen und hätte dann genau dieses Buch schreiben müssen, um sein Scheitern zu ertragen.“ Dieses Zitat gewinnt an Aussagekraft, wenn man weiß, dass dem Frankfurter Journalisten Dierk Wolters nicht nur eine hervorragende Persiphlage auf die Medienwelt gelungen ist, sondern darüber hinaus die brillante Erzählung eines intellektuellen Spießers und Mörders ... Eine „Amour fou“ und eine bedrohliche, große Geschichte.

Zum guten Schluss riskiere ich es, Eulen nach Athen zu tragen und mich in die Gesellschaft von Elke Heidenreich und Jürgen von der Lippe zu begeben, welche dieses, zur unbedingten Lektüre anempfohlene, Schriftgut (anlässlich der Taschenbuchausgabe) in den Himmel hoben. Eine „Wiederentdeckung“, ein „Kultbuch“, so konnte man hören. Ich würde eher sagen: ein wahnsinniges Wunderwerk.

William E. Bowman, Die Besteigung des Rum Doodle (Goldmann): Es mag sein, dass diese Geschichte noch zwerchfellerschütternder ist, wenn man weiß, dass sie bereits 1956 geschrieben wurde, nur drei Jahre nach der Erstbesteigung des Mount Everest, zu einer Zeit also, in der Bergsteigen so etwas wie die „Fortführung des Krieges mit anderen Mitteln“ war. Wurden in den 1930er und 40er Jahren noch die Alpen propagandistisch ausgeschlachtet, so verlagerte man nach dem Krieg die hochalpinen Aktivitäten in den Himalaya. Als „Schicksalsunternehmungen nationaler Tragweite“ bezeichnet das der Reisejournalist Andreas Lesti in seinem klugen Nachwort und weist darauf hin, dass „jede Nation ihren eigenen Schicksalsberg“ hatte (die Engländer den Mount Everest, die Deutschen den Nanga Parbat, die Italiener den K2 und die Franzosen den Annapurna). Kurzum: In dieser Dekade sind „Expeditionen [...] Feldzüge und Bergsteiger Soldaten – und die Berichte darüber sind humorlos, ernst und unerträglich.“ (A. Lesti)
Und dann kommt dieser englische Ingenieur daher und schreibt in seiner Freizeit ein Buch, das in puncto Witz – bis heute – alles in den Schatten stellt, was nicht bei drei auf dem Gipfel ist. Die Besteigung des Rum Doodle ist die Geschichte einer (fiktiven) Himalaya-Expedition, bei der alles, aber auch wirklich alles schief geht, was schiefgehen kann. Man kann sich beim Lesen nicht dagegen wehren, bei den Expeditionsteilnehmern ständig die Mitglieder von „Monty Pythons Flying Circus“ vor Augen zu haben: den Navigator, der trotz Kompass noch nicht mal zum ersten Treffpunkt findet, den Arzt, der dauernd krank ist, den unter Antriebslosigkeit leidenden Hauptkletterer, den (englischen!) Koch, dessen Qualitäten jeder Beschreibung spotten, und den Übersetzer, der die Sprache der Einheimischen nicht versteht, weswegen er 30.000 statt 3.000 Träger engagiert ... Und am Ende haben haben sie auch noch den falschen Berg bestiegen!Bill Bryson, der wahrscheinlich beste (und mit Sicherheit humorvollste) Reiseschriftsteller der Welt fällte vor fast auf den Tag genau 15 Jahren ein Urteil, das bis zum unwahrscheinlichen Beweis seines Gegenteils Gültigkeit besitzt: Die Besteigung des Rum Doodle ist „das lustigste Buch, das Sie jemals lesen werden.“

 

LITERATUR-TIPPS 2015

Bov Bjerg, Auerhaus (Blumenbar): Warum es sieben Jahre gedauert hat, bis der Berliner Autor Bov Bjerg nach seinem grandiosen Erstling „Deadline“ endlich einen neuen Roman veröffentlicht hat, ist völlig egal. Weil er jetzt da ist. Und weil er die Erwartungen, die in erster Linie andere geweckt haben, noch übertrifft.
Es waren namhafte Schriftstellerkolleginnen und -kollegen wie Terézia Mora, Clemens Meyer, Christoph Hein oder David Wagner, die Bjergs Buch vorab in den höchsten Tönen lobten und der kleine, aber sehr feine „Blumenbar“-Verlag, der alles daran tat, dass diese Stimmen auch gehört wurden. Nach der Lektüre kommt man nun nicht umhin, ihnen zu danken und zu hoffen, dass sich die Mühe gelohnt haben möge.
„Auerhaus“ gehört nicht zu den raren Büchern, die man – nachdem man es gelesen hat – sofort ein zweites Mal lesen will, sondern zu denen, die man dann tatsächlich auch ein zweites Mal liest; weil man die Geschichte noch nicht hergeben, sie noch ein wenig für sich allein haben möchte ... Dann aber kann man nicht anders: Man geht in die Buchhandlung kauft gleich fünf Exemplare dieses unerhörten und anrührenden Romans und schenkt sie seinen Liebsten. Wickelt sie in Geschenkpapier und schickt sie den Jugendfreunden, der ersten großen Liebe, sogar den Eltern ... Bestellt noch ein paar Exemplare, weil fünf nicht reichen, weil da noch mehr sind, mit denen man seinerzeit geträumt und gelitten hat, mit denen man auf- und ausgebrochen ist, mit denen man das Staunen, Lachen und Weinen teilen will.
Bjerg erzählt die Geschichte einer Handvoll Idealisten, die sich dagegen wehren, dass ihr Leben in Ordnern mit der Aufschrift „Birth – School – Work – Death“ abgeheftet wird, und die deswegen in eine Schüler-WG auf dem Dorf, ins „Auerhaus“, ziehen. So wie man beim vorgesehenen Leben in Ordnern den wütenden Song der „Godfathers“ durchhört, so gründet sich „Auerhaus“ explizit auf das hymnische „Our House“ von „Madness“, und damit auf den Traum, sein Leben irgendwie anders zu führen als die Masse – und sei es nur aus Notwehr gegen das Vorgefundene.
Ohne allzuviel zu verraten: Es wird viele geben, die – wie David Wagner – urteilen werden: „Wir sollten alle im Auerhaus wohnen.“ Sie haben Recht.
Und es wird ebenfalls viele geben, die „Auerhaus“ mit Wolfgang Herrndorfs „Tschick“ vergleichen werden, wobei sich solche Vergleiche eigentlich verbieten. Aber ganz falsch liegen sie in diesem Fall nicht. Wegen des Sounds, der Aufrichtigkeit, der Dringlichkeit ... und auch der Traurigkeit. Denn in „Auerhaus“ klingt auch das „Aua“-Haus an, in dem eben nicht nur Mut, Rebellion und Sehnsucht beheimatet sind, sondern auch der Schmerz. Einer der sechs jungen Menschen, Frieder, ist seines Lebens so müde, dass aus dem Ringen um Glück ein Kampf um Leben und Tod wird.
Bov Bjerg schenkt uns mit seinem Roman eine wunderbare Geschichte von existenzieller Einsamkeit und wahrhaftiger Gemeinschaft und erzählt, wie es ist, wenn man den Unterschied kennt.
„Frieder hatte am Heiligen Abend den großen Weihnachtsbaum auf dem Dorfplatz gefällt. [...] Das war nicht der Anfang der Geschichte, und das war nicht das Ende. [...] Aber das war das, was jeder von Frieder wissen sollte.“
Ja! Jeder und jede sollten das wissen!
Mein absolutes Lieblingsbuch 2015.
(Dieser Text erschien am 17.7. 2015 unter dem Titel "Sich nicht in Ordnern abheften lassen" in der Badischen Zeitung. Please further join: auerhaus.de)

Isabella Straub, Das Fest des Windrads (Blumenbar): Auch mein zweites absolutes Lieblingsbuch kommt aus der seit 2012 unter dem Dach des „Aufbau“-Verlages wohnenden „Blumenbar“ und ist ebenfalls eine Suche nach dem richtigen Leben am vermeintlich falschen Ort. Die Wiener Managerin Greta bleibt mit ihrem Zug in einem Provinznest liegen, genaugenommen in „Oed am Tiefen Graben“. Dort trifft sie nicht nur auf den Taxifahrer Jurek und andere absonderliche Gestalten, sondern ist plötzlich und mit voller Wucht mit dem Menschen konfrontiert, dem sie aus gutem Grund ihr ganzes Leben aus dem Weg gegangen ist: sich selbst.
Bis in den letzten Nebenstrang der Handlung hinein wimmelt es in „Das Fest des Windrads“ von Skurilitäten und Lakonie: „Vor zwei Monaten ist sie gegangen“, erzählt da beispielsweise einer. „Nach vierzehn Jahren. Zettel auf dem Tisch. Das war’s, du Arsch. Hat sie tatsächlich geschrieben. Und dann stand da noch: Alle Orgasmen waren vorgetäuscht, alle. Vierzehn Jahre lang! Können Sie sich das vorstellen?“
Kann man, will man sogar. Doch bei aller notwendigen Abscheu verrät Isabella Straub keine einzige ihrer Figuren. Im Gegenteil: Sie erschreibt sich ein Paradies der Gestrauchelten und Gestrandeten und komponiert eine Geschichte, die nicht nur einen amtlichen Showdown aufweist, sondern auch und vor allem eine, die es vom ersten bis zum letzten Satz wert ist, gelesen zu werden.
(Vielleicht liegt es an Straubs sensationellem Stil, der an die frühe Sibylle Berg erinnert oder an Kirsten Fuchs’ „Die Titanic und Herr Berg“, dass ich auch gleich ihren Vorgängerroman Südbalkon (Blumenbar) gelesen und dermaßen gemocht habe, dass ich ihn gleich mitempfehle. Hier zwei Zitate daraus als Appetizer: „Die Wohnung kommt mir heute kleiner und beengter vor als sonst. Wie ein Etui, das für die Aufbewahrung von Menschen nicht geeignet ist.“ Und: „Er berührte meine Brüste immer so, als würde er sie siezen.“)

Kirsten Fuchs, Mädchenmeute (Rowohlt 2015): Da ihr Name schon gefallen ist ... Kirsten Fuchs’ funkelnagelneuer 460-Seiten-Schmöker ist mein drittes absolutes Lieblingsbuch 2015. Weil ich befangen bin, da ich die Autorin seit Jahr und Tag kenne und liebe, trifft es sich gut, dass ich das in den Himmel-Heben von „Mädchenmeute“ dem Feuilletonchef der ZEIT, Jens Jessen, überlasssen kann: Fuchs habe, so schreibt er, „ein Amalgan aus Naivität, Jugendslang und tieferer Bedeutung gefunden“, das „an die angelsächsische Tradition des hochliterarischen Abenteuerromans“ heranreiche. Was er damit meint: Das Buch hat das Zeug zum Klassiker! Man liest die großen Robinsonaden allesamt mit und kann nicht aufhören, sich zu darüber zu freuen, dass Crusoes Insel heute ein Stollen im Erzgebirge ist, dass der „Herr der Fliegen“ ein anderes Ende nehmen kann und dass es endlich weibliche Huckleberry Finns und Tom Sawyers gibt. Das Allerbeste aber: „Mädchenmeute“ spielt derart im Hier und Jetzt und ist so phantastisch recherchiert, dass man das Buch als Blaupause für fast alle Abenteuergeschichten aus deutscher Feder nehmen möchte: Lesen! So geht das!
Acht Mädchen flüchten aus einem Sommercamp, klauen ein Hundefängerauto samt Hunden und schlagen sich wochenlang alleine in den Wäldern durch. Und alles stimmt! Wie die Mädchen containern und dumpstern, wie sie ihren Zusammenhalt organisieren, wie sie das Abenteuer ihres Lebens bestehen ... Ja, „Mädchenmeute“ ist ein Abenteuerbuch, wenn nicht sogar das Abenteuerbuch der Gegenwart, weil es das große Thema „Freiheit“ wirklich ernst nimmt: als die Möglichkeit, zwischen allen Möglichkeiten frei wählen zu können. Zumindest einen Sommer lang.
(Anzumerken bleibt, dass das Buch auch einen veritablen DDR-Krimi-Plot aufweist und dass auch die erste Liebe verhandelt wird. Doch ist der Roman weder Mädchen- noch Jugendbuch – er stellt „nur“ die großen Fragen des Lebens. Und die erkennt man am klarsten, wenn man jung ist.)
„Mädchenmeute“ ist eine spannende, reife und einzigartige Geschichte, geschrieben in einem Sound, der süchtig macht. Wie urteilte der SPIEGEL treffend über Kirsten Fuchs’ Stil? „Diese Sprache produziert eine Energie und Lebendigkeit, die in der deutschen Gegenwartsliteratur ihresgleichen sucht.“
(Dieser Text erschien am 25.9. 2015 in einer längeren Version und unter dem Titel "Erwachsen werden in den Wäldern" in der Badischen Zeitung.)

David Whitehouse, Die Reise mit der gestohlenen Bibliothek (Tropen): Kommen wir von der besten deutschen „adventure novel“ zu jener aus England. „Haarsträubend clevere Beschreibungen und geniale Pointen“ bescheinigte die NEW YORK TIMES dem neuen Roman von David Whitehouse und untertreibt damit. Wer so „altmodische“ Dinge wie Bücher mag oder Freundschaft, Roadmovies und Handlungsvolten, wie sie seinerzeit Paul Newman und Robert Redford im Film „Der Clou“ ausheckten, der wird dieses Buch lieben. Wer eher auf Verfolgungsjagden und Autos, die brennend von einer Klippe stürzen, steht: der auch!
Erzählt wird wird die tragikomische Irrfahrt mit einem gestohlenen Bücherbus quer durch England. Am Steuer sitzen abwechselnd ein einsamer Junge, seine Nachbarin, deren „zurückgebliebene“ Tochter sowie ein aufgegabelter Outlaw. Im Gepäck haben sie nur das Nötigste: ihre Freundschaft und eine Menge guter Bücher.
Schon lange habe ich von keiner Reise mehr gelesen, bei der ich so unbedingt habe dabei sein wollen. Und schon lange habe ich mich nicht mehr so vor dem Ende einer Geschichte gefürchtet und bin so überrascht worden! Mein viertes absolutes Lieblingsbuch 2015.

Ralf Schlatter, Sagte Liesegang (Limbus Verlag): Mein fünftes absolutes Lieblingsbuch 2015 ist zwar schon vor zwei Jahren erschienen, aber nur weil ich es jetzt erst las, ändert das nichts daran, wie restlos mich diese leise und wundervolle Geschichte für sich eingenommen und wie berührt und selig sie mich nach der Lektüre wieder in die Wirklichkeit entlassen hat. Ihr Ausgangpunkt ist, dass Alfons Liesegang, 62jähriger Seismologe und soeben verstorben, einem Engel sein Leben erzählen soll. Das Entscheidende daran: So lange er erzählt, so lange darf er nachher noch einmal zurück auf die Erde.
Ein solch märchenhafter Dreh in einer gegenwärtigen Welt kann leicht schief gehen, aber Ralf Schlatter macht alles richtig. Und mehr als das: Er nimmt Scheherazade ernst und läßt seinen Helden im Wortsinne um sein Leben reden. Wie er das tut, verdient es, sensationell genannt zu werden. Denn schnell geht es nicht mehr um den Preis des Erzählens, sondern um das Erzählen selbst. In einem einzigen Monolog, getragen von Poesie und aufrichtiger Reflexion, sagt Liesegang das, was zählt, spricht er von allem, was wirklich wichtig war: vom Bruder, der tot zur Welt kam, von der Mutter, die eines Tages verschwindet, vom Über-Vater, der schweigend im Keller Steine zerschlägt, und von seiner großen Liebe, seiner „Strahlerin“. Aber auch – und immer wieder – von den Bergen, vom eigenen Scheitern, von der eigenen Mittelmäßigkeit.
In seiner klaren Bildsprache und seiner „Poetik der Einfachheit“ erinnert Schlatters Buch an Robert Seethalers phänomenales „Ein ganzes Leben“ und man bedauert es sehr, dass Schlatter mit seiner Erzählung eines „stillen Lebens“ wohl zwei Jahre zu früh dran (bzw. nicht bei einem der großen Verlage) war.
Dem „kleinen“ Innsbrucker Haus „Limbus“ aber ist zu danken. Nicht nur für die Publikation dieses warmherzigen und ganz und gar großartigen Romans, sondern auch, weil es Schlatters tolle Erzählung Maliaño stelle ich mir auf einem Hügel vor von 2003 neu überarbeitet und schön gestaltet wiederaufgelegt hat.

Zwischenbemerkung: Aufgrund von Gründen sind mir die Huldigungen meiner Lieblingsbücher in diesem Jahr etwas länger und ausführlicher geraten als in den letzten. Was nicht heißt, dass alle nun folgenden Bücher (nur weil sie vergleichsweise knapp vorgestellt werden) dagegen abfallen. Mitnichten, mein „Lesejahr 2014/15“ war ein reiches! Und alle weiter aufgeführten Bücher, ich verspreche es, machen samt und sonders glücklich und schön!

Thomas Meyer, Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse (Diogenes): Was für eine Geschichte: Vor drei Jahren bei „Salis“ erschienen, das Taschenbuch jetzt bei „Diogenes“ und bald auf der Leinwand als Kinofilm! Ein Entwicklungsroman im Stile Woody Allens – sehr lustig, sehr schräg, sehr herrlich. Und was wirklich grandios ist: Das Buch ist in Teilen auf Jiddisch geschrieben und man versteht doch jedes Wort! Es ist aber auch wordn zajt für diese wunderschejne Gschicht!

Franz Dobler, Ein Bulle im Zug (Tropen): So langsam kristallisiert sich beim anbetungswürdigen Franz Dobler ein roter Faden heraus, der sich durch seine jüngsten Bücher zieht: Männer, die am Rand des Zusammenbruchs mit einer geladenen Knarre in der Tasche ziellos durchs Land streifen. Diesmal mit dem Zug – auf der Reise nach nirgendwo und der Suche nach sich selbst. Ein amtlicher Thriller und ein echter Dobler: Spannend, humorvoll und angenehm unangestrengt.

Marion Brasch, Wunderlich fährt nach Norden (S. Fischer): „Wunderlich war der unglücklichste Mensch, den er kannte. Er kannte zwar nicht viele Menschen, doch was spielt das für eine Rolle, wenn das Unglück größer ist als man selbst.“ So beginnt Marion Braschs neuer Roman, und so geht er weiter: „Wobei das eigentlich nicht stimmte, denn Wunderlichs Unglück war etwa einen Kopf kleiner als er und hieß Marie.“ Eine eigensinnige und märchenhaft komische Liebeserklärung an die Melancholie ist dieses Buch und: eine Hymne auf die sonderbaren Momente des Lebens.

Madeleine Prahs, Nachbarn (dtv): Mit ihrem Erstling ist Madeleine Prahs ein echter Wurf gelungen, „ein berührendes Stück deutscher Gegenwartsliteratur“ (Peter Henning). Vielstimmig und einfühlsam begleitet die Autorin sechs Menschen auf ihren Wegen durch das Deutschland von 1989 bis 2006 und erzählt von Freundschaft, Liebe und Verrat. Dass diese Geschichte zu keinem Zeitpunkt schwer wird, sondern immer schwebend, fast leichtfüßig (und dabei doch immer genau) bleibt, kann gar nicht laut genug kundgetan werden.
„Das Schlimmste, was ihm noch passieren konnte, dachte er, war nicht der Tod. Sondern eine Weihnachtsfeier im Pflegeheim.“ So ist es!

Franziska Wilhelm, Meine Mutter schwebt im Weltall und Großmutter zieht Furchen (Klett-Cotta): Fantastischer Titel, fantastisches Debüt, willkommen am Ende der Welt! Wer nicht wusste, wo oder was das genau ist, weiß es jetzt: Die Sportplatzkneipe in Strottenheim, die vor allem dafür bekannt ist ist, dass sich Selbstmörder dort ihr letztes Bier zapfen lassen. Millas Großmutter ist zu dominant und ihre schöne Mutter tut nichts anderes, als für jeden, der wegen ihres Lächelns nicht auf dem Gleis endet, eine Kerbe in den Tresen zu schnitzen. Bleibt für Milla nur die Flucht. Mit einem lebensmüden Paketfahrer in Richtung Osten ...

Phil Hogan, Die seltsame Berufung des Mr Heming (Kein & Aber): Die Geschichte eines Immobilienmaklers, der mit einem Zweitschlüssel in Abwesenheit der Bewohner obsessiv durch deren Häuser und Leben schleicht, der dort isst, trinkt und auch mal etwas repariert ... Gruselig? Ja. Humor? Rabenschwarz. Ich meine, dass ein Ich-Erzähler mordet und damit durchkommt, hat man ja auch nicht allzu oft. Very spooky, very weird, very british.

Michael Schulte, Kühe im Mondschein (Maro Verlag): Man könnte jetzt zum x-ten Mal den Skandal um Schultes Ambrose-Bierce-Biographie von 1998 aufwärmen, die in weiten Passagen ein Plagiat war ... Und man könnte zum y-ten Mal dagegenhalten, dass Schulte den Verleger rechtzeitig auf seine Quelle aufmerksam gemacht und eine Kenntlichmachung mittels Fußnoten vorgeschlagen hatte, was der Verleger aber ablehnte ... Geschenkt. Im offiziellen Literaturbetrieb wurde es leise um Michael Schulte, aber richtig laut war es ja nie gewesen. Was ein großer Fehler war und bleibt! Denn Schulte, der Mann, der „Max Puntila“ und „Mike McSorley“ war, ist der vielleicht beste Anekdoten-Erzähler, den die deutsche Sprache überhaupt aufbieten kann, mit Sicherheit aber der schonungsloseste und lustigste.
Wer den gerade erschienenen Sammelband „Kühe im Mondschein“ liest, kommt aus dem Lachen und Staunen nicht mehr heraus. Was für ein zärtliches Großmaul, was für ein begnadeter Streuner!
Ein Hoch auf den Augsburger „Maro Verlag“, dem ein echtes und würdiges Best-of-Schulte gelungen ist, mit Klassikern wie „Bukowski ist schuld, daß ich in Hamburg lebe“ oder der „Führerscheinprüfung in New Mexico“, vor allem aber durch den Abdruck der gesammelten „Bisbee“-Stories, der umwerfenden Geschichten aus jenem legendären Kaff in Arizona, das in den 80ern zum Eldorado für Tagediebe, Verlierer und kauzige Gestalten wurde und in dem Schulte eine Kaffeehausgalerie betrieb und die Anekdoten seiner Gäste notierte. Von Seite 73 bis Seite 179 in „Kühe im Mondschein“ kann man sich anschauen, wie ein literarisches Denkmal für Menschen aussieht, die in einer schlechteren Welt niemals eines bekommen hätten. Und auf Seite 133 beginnt sie dann: Die definitiv komischste Kurzgeschichte aller Zeiten ... Schluss! Selbst kaufen, selbst lesen, selbst freuen!
Michael Schulte dürfte das alles ohnehin herzlich egal sein, er lebt – 74jährig – irgendwo in Schleswig-Holstein und malt angeblich nur noch. Was nicht stimmt: Er verfasst bis auf den heutigen Tag zauberhafte Radio-Essays für den MDR; über Valentin, Kraus, Beckett, Hemingway, Gogol, Laurel ... Ein Name fehlt in dieser Reihe. Sein eigener. Der von Michael Schulte, jenem meisterhaften, genialen und „originären Wirrkopf im Heer der Glattfrisierten“ (Stuttgarter Nachrichten)!

Meine selbst auferlegte Beschränkung für die Literatur-Tipps liegt bei maximal fünf DinA 4-Seiten, also bleiben nur noch ein paar Zeilen für die unbedingte Empfehlung von folgenden Büchern:

Robert Seethaler, Ein ganzes Leben (Hanser Berlin): Siehe oben. Unbedingt lesen! „Diese unerklärliche Leichtigkeit des Schreibens ist so wohltuend.“ (FAZ)

Fabio Genovesi, Fische füttern (Bastei Lübbe): Ein unvergesslicher Kindheitssommer und eine der originellsten neuen Erzählstimmen Italiens.

Joanna Kavenna, Cassandras Zorn (dtv): Die Ferienhäuser der Reichen werden von den Armen besetzt ... „Thelma und Louise“ auf dem Lande. Oder anders formuliert: Robin Hood ist eine Frau und hat endlich Humor!

Wilhelm Genazino, Bei Regen im Saal (Hanser): Wunderbar. Wie jedes Buch dieses umwerfend klugen Flaneurs aus Frankfurt. Eine hochliterarische Wohltat gegen jede Form von Erlebnisdruck.

Kai Weyand, Applaus für Bronikowski (Wallstein Verlag): Ein so berührender wie witziger Bestatter-Roman mit dem kürzesten und treffendsten Klappentext der Saison: „Bei Kai Weyand geht es um Leben und Tod. Sehr komisch.“

Sibylle Berg, Der Tag, als meine Frau einen Mann fand (Hanser): Frau Berg goes porn. Und kann auch das!

Wiglaf Droste, Der Ohrfeige nach (Edtition Tiamat): Wiglaf Droste? Eh! Immer!

 

LITERATUR-TIPPS 2013/14

Nickolas Butler, Shotgun Lovesongs (Klett-Cotta): Drei Hochzeiten, zwei Scheidungen, ein Beinschuss und Lieder von der Liebe ... Manchmal ist es schon erstaunlich, dass ein Buch auf der halben Welt einschlägt wie ein Wunder (mit fantastischen Kritiken, verkauften Filmrechten und herzerweichenden Liebeserklärungen der Leserschaft) und es in Deutschland noch nicht einmal auf eine der Bestsellerlisten schafft. Dabei ist Nickolas Butlers Debutroman aus dem „Heart of Wisconsin“ derart gut und wunderschön, dass einem der Atem stockt. Schamlos zärtlich wird die Geschichte von fünf Freunden erzählt, die einen bei der Seele packt und nicht mehr losläßt. Ein Manifest der Liebe, Freundschaft und Musik – und zugleich eine „Americana“, wie es sie schon lange nicht gegeben hat. Eine kanadische Kritik schwang sich sogar dazu auf, zu behaupten, dass „Shotgun Lovesongs“ die Art Buch sei, „die unseren Glauben an die Menschheit wiederherstellen kann.“ Man ist geneigt, dem beizupflichten. „Shotgun Frontseat!“, brüllen Kinder, wenn es darum geht, wer auf dem Beifahrersitz fahren darf, aber hier lebt der Glaube, dass es eben nicht der ist, der am lautesten schreit oder am schnellesten zieht, sondern, derjenige, mit dem man sein Leben – ohne wenn und aber – teilen will! Ich habe mir schon ewig nicht mehr so schöne Musik eingebildet und ein so wundervolles Kopfkino genossen wie beim Lesen dieses Romans. Mein absolutes Lieblingsbuch 2013/14. (Anzumerken ist, dass Klett-Cotta-Tropen in den letzten Jahren fast alles richtig macht und reihenweise gute Titel im Programm hat.)

Lena Gorelik, Die Listensammlerin (Rowohlt Berlin): Diese anrührende, komische und extrem originelle Familiengeschichte ist mein zweites absolutes Lieblingsbuch 2013/14. Das Einzige, das halbwegs Ordnung in das Leben der Heldin Sofia zu bringen vermag, ist das manische Anlegen von Listen: Listen der peinlichsten Kosenamen, der witzigsten Neurosen, der seltsamsten religiösen Rituale, der nettesten Ärzte, der typischen Großmuttersätze usw. Nur so lässt sich der familiäre und alltägliche Wahnsinn (Tochter todkrank, Mutter schwierig, Oma dement und Welt aus den Fugen) ertragen. Hier geht jemand aufs Ganze und vergisst auch den kläglichen Rest nicht. Ein ganz und gar warmherziger und (im Wortsinne!) merkwürdiger Roman über Leben und Tod, Krieg und Frieden, Liebe und Liebenlassen und alles, was dazwischen liegt.

Marjana Gaponenko, Wer ist Martha? (Suhrkamp): Vielleicht liegt es an dem unvermeidlichen Hundertjährigen, der vor drei Jahren aus dem Fenster stieg, um einfach nicht mehr zu verschwinden, dass seither nicht nur eine Flut von Viel-Wort-Titeln, sondern vor allem von Büchern über das Alter publiziert werden ... Marjana Gaponenkos ist nicht nur das schönste darunter, sondern ein echter Glücksfall. Ihr 96jähriger Held Luka Lewadski, ukrainischer Ornithologe und Autor der bahnbrechenden Untersuchung „Über die Rechenschwäche der Rabenvögel“, hat nicht mehr viel Zeit im Leben – und die nutzt er, dass es eine Art hat. Er macht eine letzte Reise, findet einen Gleichgesinnten dann wird von der Revolution geträumt, das Dasein gefeiert, und – ja – auch dem Tod Willkommen gesagt. Alles auf wundersamem und sprachlich höchstem Niveau, komisch, tragisch, kühn und traumwandlerisch neu. Statler und Waldorf aus der Muppet Show leben und verhandeln die letzten Dinge absolut lesenswert. Was für ein Wurf und mein drittes Lieblingsbuch 2013/14!

Michael Stauffer, Ansichten eines alten Kamels (Voland & Quist): Gleiches gilt für den neuen Roman von Michael Stauffer, der es tatsächlich mit jedem seiner Werke schafft, sich in meine perönliche Hitliste der Lieblingsbücher zu schreiben. Auch hier geht es um nicht weniger als das Leben und auch hier ist der Schauplatz ein Altersheim. Sehr lustig, sehr schräg, also – wie alles von Dichterstauffer: Lesen! (dichterstauffer.ch)

[Und interessant ist es ja schon, dass bereits mein „Lieblingsbuch 2010“ („Spaziergänger Zbinden“ von Christoph Simon) in einem Betagtenheim spielte und eines meiner drei „Lieblingsbücher aller Zeiten“ („Les jours heureux“ von Laurent Graff) ebenfalls ... Wahrscheinlich das Alter!]

Sabine Peters, Narrengarten (Wallstein): Mein abschließendes und fünftes Lieblingsbuch aus den Jahren 2013/14. Auch bezüglich des neuen Oeuvre der vielfach preisgekrönten Hamburger Autorin Sabine Peters lässt sich ein zu begrüßender Trend ausmachen: Die verstärkte Wiederkehr des vielstimmingen Erzählens, wenn nicht gar des immerguten und von mir geliebten „Short Cuts“-Stadtromans. Und da meine jährlichen Lektüre-Tipps letztlich ja eine Service-Kolumne sind, sage ich es unumwunden: Die weiter unten kurz, aber herzlich anempfohlenen Bücher von Alain Claude Sulzer, Margaritha Kinstner und Helmut Krausser folgen ebenfalls dem „Short Cuts“-Modell und werden wohl den meisten besser gefallen, weil sie süffiger, filmischer, komischer, handlungsreicher und verschränkter erzählt sind ... Trotzdem habe ich mich für den grandiosen Hamburg-Roman „Narrengarten“ als Lieblingbuch entschieden. Erstens, weil hier tatsächlich aus keiner Sicht der vielen Figuren zweimal erzählt wird und doch ein großartiger, zusammenhängender Kosmos entsteht (das muss man erstmal schaffen!). Zweitens, weil hier die wunderbare, von Raymond Carver begründete, Form des verknappten Erzählens zur Meisterschaft gelangt. Und drittens (und wichtigstens): Die Geschichte spielt überwiegend an den Rändern der Gesellschaft. Nach so einer genauen, wahrhaftigen, formvollendeten und warmen Beschreibung, nein: Erzählung!, von prekären Verhältnissen habe ich lange gesucht; denn, wenn hier einmal das „kleine Glück“ aufschimmert, ist es „ganz großes Kino“. Und davon ab ziert „Narrengarten“ darüberhinaus der kürzeste und treffendste Klappentext der Saison: „Schräge Vögel und brave Bürger bevölkern dieses Buch, in dem Großstadt und familiäres Zusammenleben, Jung und Alt, Leben in der Mitte der Gessellschaft und am Rande der Armut erzählerisch zusammenfinden.“ So ist es. Chapeau!

Max Scharnigg, Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau (Hoffmann und Campe): Ganz anders als sein Erstling „Die Besteigung der Eiger-Nordwand unter einer Treppe“ und doch wieder ein hervorragendes Buch aus der Feder von Max Scharnigg. Eine herrlich barocke und außergewöhnlich erzählte Geschichte über drei Generationen auf einem Einsiedlerhof im Ödland, die sehr viel Freude macht.

Klaus Bittermann, Alles schick in Kreuzberg (Edition Tiamat): Man darf das ruhig so sagen: Klaus Bittermann, dieser Miniaturen-Meister aus Berlin und Flaneur vor dem Herrn, ist der beste Kiez-Chronist, den wir haben! Unter folgendem Link habe ich sein Vorgänger-Werk „Möbel zu Hause, aber kein Geld für Alkohol“ in den Himmel gelobt, diese Huldigung gilt, ohne Abstriche, auch für „Alles schick in Kreuzberg“.

Thomas Glavinic, Das größere Wunder (Hanser): Auch „der neue Glavinic“ ist ein ein Meisterwerk und schoss von Null auf Eins in der österreichischen Bestsellerliste. Wieder heißt sein Held „Jonas“ und wieder geht es um nicht weniger als um alles! Nach den Themen „Tod“, „Ruhm“ und „Leben“ ist „Das größere Wunder“ Glavinc’ Opus magnus über die Liebe. Und was für eines – Herrschaftszeiten, kann der Kerl schreiben ... literarisch anspruchsvoller ist der Mount Everest nie bestiegen worden! Und nicht nur weil das ohnehin auch alle Rezensionen so sehen, sondern, weil es wahr ist, darf man getrost urteilen: „Das größere Wunder“ sind 530 Seiten Weltliteratur. (Und wer sich für sein Schreiben als solches interessiert, dem sei das erst kürzlich bei „Edition Akzente“ erschienene Büchlein: Thomas Glavinic, Meine Schreibmaschine und ich nahegelegt. Derzeit sitzt Thomas als „Artist in Residence“ am Goldegger See und arbeitet an einem neuen Roman. Und solange er schreibt, ist alles gut! Keep on goin’, my dear friend!)

David Schalko, Knoi (Jung und Jung): David Schalko kennt man wahrscheinlich eher als Mastermind der Wiener Filmszene (er hat nicht nur mit Hader, Dorfer und vielen anderen gearbeitet, fantastische Fernsehspiele geschrieben, sondern auch (s.o.) Thomas Glavinic’ Roman „Wie man leben soll“ fürs Kino verfilmt). Literatur-Affine aber wissen: Der Mann schreibt auch Bücher – und zwar ausnehmend gute. Nach „Frühstück in Helsinki“, „Wir lassen uns gehen“ und vor allem „Weiße Nacht“, dem wahrscheinlich besten Buch über das Innenleben des „Haider“-Österreiches, hat er jetzt den Roman geschrieben, den er immer schon mal hat schreiben wollen; und der ist nichts für schwache Nerven: Auto- und Sexunfälle, ein verhaltensgestörtes Kind, ein Mann, der nur mit Frauen schlafen kann, wenn diese betäubt sind, eine Frau im Rollstuhl, der blanke Horror zweier Paarbeziehungen, die komplette Zerstörung von Würde, die Liebe als Nahkampfdisziplin. Nein, hier ist die Welt nicht in Ordung und ja, hier tun sich Menschen etwas an. Schalko macht es weder sich noch der Leserschaft einfach, manchmal wechselt die Erzählperspektive sogar mitten im Satz ... aber: Es gelingt. „Knoi“ ist ein brillant geschriebenes, hartes Buch, ein Thriller, ein Fanal. Wow!

Margarita Kinstner, Mittelstadtrauschen (Deuticke): Und nochmal Wien. Ein sehr bemerkenswerter Erstling, polyphon, märchenhaft, komisch und spannungsgeladen. Ein wunderbar zu lesender Roman und zugleich eine vielschichtige Hommage an die „Stadt der Seele“.

Alain Claude Sulzer, Aus den Fugen (Galiani): Ein Starpianist bricht mitten in der Interpretation der Hammerklaviersonate sein Konzert ab und verlässt den Saal. Die folgende Stille ist ein Paukenschlag; für ein Dutzend weitere Hauptfiguren ist mit einem Mal nichts ist mehr, wie es noch vor Kurzem war ... Ein Reigen von Handlungssträngen setzt sich in Gang, der perfekt komponiert ist und ein schlicht „grandios“ zu nennendes Roman-Kaleidoskop ergibt. „Short Cuts“ at its best.

Helmut Krausser, Einsamkeit und Sex und Mitleid (Dumont): Auch dieser Roman des Berliner Bestseller-Autors folgt den „kurzen Schnitten“ und spielt auf der Klaviatur des scheinbaren Zufalls im Großstadtdschungel. „Das witzigste deutsche Buch des Jahres“, wie Daniel Kehlmann vollmundig auf dem Cover verspricht, ist „Einsamkeit und Sex und Mitleid“ nicht, aber den zahlreichen Besserwissern, die den Autor von „Fette Welt“ oder „Der große Bagarozy“ aus verschieden Gründen abgeschrieben haben, sei ins Stammbuch gehustet: Krausser ist – nach wie vor – verdammt gut, und sein Roman, wie die FAZ bemerkt (und das trifft’s), „ein Sittenbild verwahrloster Gemüter, unterhaltsam und voller Hardcore-Komik.“

Im folgenden, die drei – definitiv und tatsächlich – „witzigsten Bücher des Jahres“:
einzlkind, Gretchen (Edition Tiamat)
Erlend Loe, Jens. Ein Mann will nach unten (Kiwi)
Matto Kämpf, Kanton Afrika. Eine Erbauungsschrift (Der gesunde Menschenversand)

Und wenn wir schon bei Auflistungen sind, hier noch weitere Bücher, die mich 2013/14 bestens, um nicht zu sagen allerbestens unterhalten haben:
Jasmin Ramadan, Kapitalismus und Hautkrankheiten (Tropen)
Mark Haddon, Das rote Haus (Blessing)
Deborah Levy, Heimschwimmen (Wagenbach)
Maggie Shipstead, Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit (dtv)
Jochen Schmidt, Schneckenmühle (Beck)

Kristian Bang Foss, Der Tod fährt Audi (carl’s books)

Sibylle Berg, Vielen Dank für das Leben (Hanser): Kommen wir zur Abteilung „Menschenverachtung“, in die das Feuilleton Sibylle Berg nur zu gern einsortiert. Auch ich gebe gerne zu, dass ich die Lektüre ihres letzten Romans immer wieder vor mir hergeschoben habe, weil ... ach, weiß auch nicht so genau, Angst wahrscheinlich. Umso größer war meine Freude, als ich „Vielen Dank für das Leben“ dann doch las. Toto, die Hauptfigur, ist ein Wunder. Ein Mensch ohne klares Geschlecht (die ersten 200 Seiten ein „er“, die zweiten eine „sie“), zu dick, zu groß, aber ein Mensch, ein grundgütiger und unschuldiger Mensch, der durch die schlechteste aller denkbaren Welten geht. Ja, Toto wird so ziemlich jedes Leid zugefügt, das man sich vorstellen kann, aber an der Reinheit dieser Figur (die von Sibylle Berg mit einer so noch nicht gekannten Zärtlichkeit geschildert wird) zeigt sich einmal mehr die absolute Verkommenheit der Welt oder dessen, was wir aus ihr gemacht haben. Und in der Beschreibung von Letzterem ist die Autorin ohnehin die Meisterin aller Klassen. Zurecht stand dieses Buch auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis und der Tag wird kommen, an dem Sibylle Berg diesen Preis auch erhält.

Matias Faldbakken, The Cocka Hola Company (Blumenbar/Heyne Hardcore): Vielleicht ist es dem Bergschen Sog geschuldet, dass ich nun auch endlich die Lektüre dieses bereits 2004 auf Deutsch erschienen Buches nachgeholt habe. Mit großem Lesevergnügen. „Die große norwegische Menschenverachtungsbibel“, schrieb die FAZ und hat recht. Faldbakken ist keiner jammert, er schlägt zurück; ein skandinavischer Michel Houellebeq, erweitert um alle Spielarten der Libertinage. Sagen wir, wie es ist: „The Cocka Hola Company“ handelt nicht nur von Porno, der Roman ist Porno! Oder wie die Zeitschrift Style urteilte: „Eine großartige Sauerei von einem Buch.“

Dimitri Verhulst, Der Bibliothekar, der lieber dement war, als bei seiner Frau (Luchterhand): Ja, noch ein Buch aus der bereits erwähnten Langtitelflut über das Altern. Aber eben eines von Dimitri Verhulst, der seit „Die Beschissenheit der Dinge“ und „Gottverdammte Tage auf einem gottverdammten Planeten“ für extrem komische, barocke und direkte Bücher bekannt ist. Auch dieses ist wieder überbordend, unkorrekt und wunderbar. Ein Mann macht auf dement, um seiner Ehe- und Familienhölle zu entfliehen und im Pflegeheim seine Ruhe und seine Jugendliebe wiederzufinden ... und natürlich geht hier nichts auch nur ansatzweise gut, sondern wird – bis zum bitteren Ende – satirisch, grotesk und bitterböse auserzählt. Zugabe: Das Buch enthält den besten ersten Satz des Literatur-Jahres: „Obwohl die Tat selbst vollkommener Absicht entspringt, geht es mir sehr gegen den Strich, dass ich jede Nacht wieder ins Bett scheiße.“

Sarah Schmidt, Eine Tonne für Frau Scholz (Verbrecher Verlag): Zum guten Schluss rufe ich in die Welt: Sarah Schmidt wird immer besser und ihr neuer Roman ist eine Wucht und gehört in jedes Bücherregal. Das, im feinen und stets zu rühmenden Verbrecher Verlag erschienene, Buch der Berliner Lesebühnen-Autorin ist ernst, komisch, wunderbar – und im besten Sinne: Unterhaltung, mit Betonung auf Haltung nämlich. Ich kann mich nur Joachim Scholl anschließen, der im Vorfeld der letzten Leipziger Messe auf Deutschlandradio Kultur sagte: „Ich habe für diese Buchmese 2000 Seiten gelesen, aber keine so geliebt wie diese 200 von >Eine Tonne für Frau Scholz<.“

 

LITERATUR-TIPPS 2012

Milena Michiko Flašar, Ich nannte ihn Krawatte (Wagenbach): „Ein zartes melancholisches Buch von großer sprachlicher Schönheit und Klarheit. Ein makelloser Roman.“ Das schrieb die SZ über Flašars neuestes Buch und hat vollkommen Recht damit.
Worum geht’s? Ein Hikkikomori, also einer der vielen japanischen Jugendlichen, die am Leistungsdruck zerbrechen und über Jahre ihr Zimmer nicht mehr verlassen (derzeit gibt es davon ca. 320.000 in Japan) trifft auf seinem ersten vorsichtigen „Freigang“ einen jener zahlreichen älteren „Salarymen“, die über Monate hinweg ihren Nächsten den Verlust ihrer Arbeit verschweigen und (oft bis zu ihrem Freitod) jeden Morgen aus dem Haus gehen, irgendwie den Tag verbringen, um am Abend so zu tun, als sei alles in Ordnung. Aber hier ist nichts mehr in Ordnung. Gar nichts. „Ich nannte ihn Krawatte“ ist eine kurze, große Geschichte über Trauer und Scham, aber auch – trotz aller Ausweglosigkeit – eine über eine wunderbare Freundschaft. Der gebrochene Hikkikomori und der geschasste Firmenangestellte auf einer trostlosen Parkbank; wie sich diese beiden Figuren einander annähern, wie sie zu erzählen beginnen und unbewusst versuchen, sich gegenseitig zurück in die Welt zu holen, ist so unmöglich wie großartig. Und wohl nur in dieser knappen, leuchtenden, ganz eigenen Sprache möglich, die einen auf jeder Seite glücklich und Staunen macht. An einer Stelle heißt es: „Hätte ich. Wäre ich. Es gibt nichts Trostlosereres als den Konjunktiv in der Vergangenheit.“ Wie wahr. Aber dieser Roman ist im besten Sinne „Gegenwart“ und mein absolutes Lieblingsbuch 2012.

Eshkol Nevo, Wir haben noch das ganze Leben (dtv): Dieser Roman, obgleich schon 2010 erschienen, ist mein zweites Lieblingsbuch 2012. Vielleicht, weil es ebenfalls die Geschichte einer Freundschaft erzählt, vielleicht, weil es ebenfalls in der Fremde spielt – in diesem Fall in Israel – und doch so viel mit einem selbst zu tun hat. Vier Freunde, vier Lebenswünsche und vier Jahre Zeit (die Spanne zwischen zwei Fußballweltmeisterschaften). Selten habe ich einen so perfekt gebauten Roman gelesen, der so wahrhaftig daherkommt, der Lebenspläne und Freundschaften so ernst nimmt und der einem so en passant eine Geschichte Israels erzählt, wie man sie nicht aus den Nachrichten kennt. Eine Kritikerin urteilte: „Es ist unmöglich, sich nicht in diese vier Männer zu verlieben.“ Gleiches gilt für dieses Buch.

John Green, Das Schicksal ist ein mieser Verräter (Hanser): Auch, wenn das mittlerweile in allen Zeitungen stand, in allen Sendungen verkündet wurde und deswegen jeder literarisch interessierte Mensch schon weiß: Dieses Buch ist „der Wahnsinnshammer“ (wie es in jedem zweiten blog heißt), dieses Buch „ist nahe an der Genialität“ (wie das Time Magazine schrieb), dieses Buch ist zurecht ein internationaler Bestseller. John Green (ja der, der vor ein paar Jahren das wundervolle „Eine wie Alaska“ verfasste) erzählt die Liebesgeschichte zweier unheilbar an Krebs erkrankter Teenager und wie er es tut, ist kaum in Worte zu fassen. Komisch, intensiv, ehrlich und todtraurig. Natürlich heult man sich die Augen aus dem Kopf beim Lesen, aber die Geschichte, verdammt, DIESE Geschichte ist es wert! Nie mehr möchte ich jemand despektierlich über „Jugendbücher“ sprechen hören... Mein drittes Lieblingsbuch 2012.

Rolf Lappert, Pampa Blues (Hanser): Auch das neue Buch von Rolf Lappert („Nach Hause schwimmen“) ist ein Jugendroman, eine zum Weinen komische Geschichte über das Erwachsenwerden im Nirgendwo. „Eine Weile sitzen wir stumm da, trinken unser Bier und gucken in den Himmel. ’Glaubst du eigentlich, dass dort oben irgendwo Leben ist’, fragt Maslow schließlich. ’Ich glaube nicht mal, dass hier unten Leben ist’, sage ich.“ Doch, da ist Leben – und was für eins!

Sonja Heiss, Das Glück geht aus (Bloomsbury): Kurzgeschichten über Menschen, die keine Angst vor dem Tod, sondern vor dem schlecht gelebten Leben haben. Wie in ihrem preisgekrönten Film „Hotel Very Welcome“ erzählt Sonja Heiß in ihrem ersten Buch abgründig, lakonisch und genau vom Hunger nach Momenten des Glücks, die alles bedeuten können.

Stuart Evers, Zehn Geschichten übers Rauchen (Frankfurter Verlagsanstalt): Noch ein Debüt und der beste Band mit Short-Stories, den ich seit Langem gelesen habe. Es ist fast beängstigend, wie gut der Mann schreibt. Kein Wort zuviel, immer relevant und immer auf den Punkt. Wer die Geschichten von Raymond Carver mag (und wer täte das nicht), wird dieses Buch lieben!

Wiglaf Droste, Sprichst du noch oder kommunizierts du schon? (Edition Tiamat)
Thomas Kapielski, Neue sezessionistische Heizkörperverkleidungen (Suhrkamp)
Max Goldt, Die Chefin verzichtet (Rowohlt):
Die Lektüre der jüngsten Bücher der drei Großmeister der komischen Literatur sei hiermit zwingend empfohlen. Weil alle drei auf ihre Art grandios sind. Wie immer eigentlich. Aber gesagt werden muss es doch.

Gerhard Waldherr, Bruttoglobaltournee (Salis): Auf dem Klappentext zu diesem, ja!, Sachbuch steht Folgendes: „Bruttoglobaltournee ist eine moderne Weltreise in Textform, atemlos, klug und so faszinierend wie verstörend.“ Das kann ich vollumfänglich unterschreiben. Die gesammelten Reisereportagen des vielfach ausgezeichneten Journalisten Gerhard Waldherr gehören in jedes Bücherregal. In 26 Reportagen um die Welt, von Indien über die Mongolei nach Island, von Mexico über die Antarktis bis in den Jemen – hier erfährt man wirklich etwas über unsere globalisierte Moderne und nie ist da ein eitles „ich“, das den Blick verstellt. Auch bei den Texten über Deutschland, die USA oder Kanada dachte ich beim Lesen: „Mein Gott, das habe ich alles nicht gewusst!“ Jetzt weiß ich es – vielen Dank dafür.

Wolfgang Pohrt, Kapitalismus Forever. Über Krise, Krieg, Revolution, Evolution, Christentum und Islam (Edition Tiamat): Noch ein Sachbuch. Nicht die linke Szene oder das aufgeklärte Feuilleton, sondern Theaterschaffende (Leute wie René Pollesch und Sophie Rois) haben dafür gesorgt, dass Wolfgang Pohrts Texte eine dringend notwendige Renaissance und Würdigung erfuhren. Jetzt hat der Großmogul der Kapitalismuskritik ein neues Büchlein vorgelegt. Und wie immer: Kaum ein Gedanke, dem man nicht sofort widersprechen möchte, der sich nicht eingräbt in die Krisendebatte, der nicht lange nachhallt. „Wozu Pohrt lesen? Es ist die Schönheit und die Radikalität dieser perfekt formulierten polemischen Kritik, die heutzutage ihresgleichen sucht.“ (Rudolf Görtler)

Martin Page, Die besten Wochen meines Lebens begannen damit, dass eine Frau mich verließ, die ich gar nicht kannte (Thiele Verlag): Eines der seltenen Beispiele, wo der deutsche Titel besser ist als das Original („Peut-être une histoire d’amour“); abgesehen davon ein sensationell komischer Roman des „Woody Allens Frankreichs“ und um ein Vielfaches lustiger (und besser geschrieben) als sein Weltbestseller „Antoine oder die Idiotie“, und der war schon granatengut.

Ascanio Celestini, Schwarzes Schaf (Wagenbach): Hier hat jemand den Verrückten zugehört und zwar genau. Eine beißende Satire und ein bewegender Bericht zugleich – ein „Nachruf auf die elektrische Irrenanstalt“, wie Celestini, den man bislang nur als Filme- und Theatermacher kannte, selber sagt. Das ist stark untertrieben: Hier ist wieder einer über das Kuckucksnest geflogen!

Hannes Köhler, In Spuren (Mairisch Verlag): Von diesem jungen Autor wird man hoffentlich noch viel lesen dürfen. Sein Debütroman ist auf ein jeden Fall eine Wucht. Der beste Freund verläßt die fröhliche Runde, um Zigaretten holen zu gehen – und kommt nicht mehr zurück. Ein Witz, an dem irgendwann aber so gar nichts mehr zum Lachen ist. Hannes Köhler beschreibt eine Spurensuche, die vor nichts haltmacht. Existenzielle Fragen werden in Erstlingen gerne gestellt, aber schon lange nicht mehr so eindringlich, authentisch und formvollendet wie hier. (Kurze Anmerkung: Den Mairisch Verlag gibt es seit 1999, ein von vorne bis hinten prima Indie-Haus, aus dessem Programm man so gut wie alles getrost lesen kann; ich sage nur: Finn-Ole Heinrich, Andreas Stichmann, Lee Rourke...)

Zum vorläufigen Abschluß noch drei Bücher, die mich bestens, um nicht zu sagen allerbestens unterhalten haben:

Kim Leine, Die Untreue der Grönländer (Mare)
Heinz Emmenegger, Pfister (Salis)
Katinka Buddenkotte, Betreutes Trinken (Knaus & Co)

Und klar: Gerbrand Bakker, Der Umweg (Suhrkamp) ist – wie alle Romane dieses wundersamen, stillen Niederländers – einfach nur ein Ereignis.

Und (nun wirklich) abschließend: Der gute Joe Bauer hat einen neuen Band mit Stadtgeschichten vorgelegt. Sagen wir gleich, wie es ist: Wenn ein Buch es schafft, seinem Leser unbändige Lust darauf zu machen, sofort alles stehen und liegen zu lassen, um nach Stuttgart zu fahren und dort spazieren zu gehen, muss es ein verdammt gutes Buch sein. Joe Bauers jüngste Sammlung ist genau so ein Buch.

Joe Bauer, Im Kessel brummt der Bürger King. Spazieren und über Zäune gehen in Stuttgart (Edition Tiamat) [hier eine ausführlichere Kritik zu diesem Buch]

 

LITERATUR-TIPPS 2011

Max Scharnigg, Die Besteigung der Eiger-Nordwand unter einer Treppe (Hoffmann & Campe): Ein Junger Journalist kämpft mit einem Text über die Erstbesteigung des Eigers und mit Leben und Liebe. Als er eines Tages nach Hause kommt, findet er ein Paar fremder Männerschuhe vor der Wohnungstüre; kurzerhand flieht er in den Keller und verbringt seine Zeit unter der Treppe... Max Scharnigg (den man durch seine Kolumnen in der SZ kennen sollte) ist ein sensationelles Romandebut gelungen. Eine stille, genaue, komische, wunderbare Geschichte und mein absolutes Lieblingsbuch 2011!

Pierre Szalowski, Bei Kälte ändern die Fische ihre Bahnen (C. Bertelsmann): Hier treffen die Unbillen der Welt nicht nur einen kleinen Jungen und seine scheidungswilligen Eltern, sondern gleich eine ganze Straße im kanadischen Nirgendwo. Zwischen Short-Cuts und modernem Märchen nimmt ein Autor endlich mal wieder die Frage „Was wäre, wenn...“ ernst und schreibt eine grandiose und herzzereißend schöne Version von „Und wenn sie nicht gestorben sind...“ Mein zweites absolutes Lieblingsbuch 2011!

Monica Cantieni, Grünschnabel (Schöffling & Co.): Das ist mein drittes absolutes Lieblingsbuch 2011! „Mein Vater hat mich für 365.- Franken von der Stadt gekauft.“ So beginnt die Geschichte eines Kindes, das, zur Adoption freigegeben, bei neuen Eltern im Immigrantenmilieu der Schweiz 1970er Jahre landet. Ein unverschämt guter Roman, in dem Wörter in Streichholzschachteln gesammelt werden und in dem in einer zurecht preisgekrönten, neuen Bildersprache gelebt, geliebt und gelitten wird.

Gregor Sander, Winterfisch (Wallstein): Karge, verschwiegene, tolle Erzählungen sind das, die allesamt im Ostseeraum spielen. Wer Kurzgeschichten mag und weiß, dass sie letztlich die Königsklasse sind, der wird diesen Band nicht mehr aus der Hand legen. Wenige Striche, diskret, präzis, Bachmanngepriesen.

Hier drei Bestseller, die ich uneingeschrängt empfehlen kann, weil sie mich beim Lesen haben jauchzen lassen:

Rocko Schamoni, Tag der geschlossenen Tür (Piper): Niemand verzweifelt schöner, gelassener und unerbittlicher an der Gesellschaft als Schamonis Held Martin Sonntag, den man schon aus dem Vorgängerroman kennt und hier ohne wenn und aber weitermag. Außerdem macht der König wieder Musik und alles wird gut.

Michel Houellebecq, Karte und Gebiet (DuMont): Irgendwo in der Presse stand, dass mit dem neuen Werk nicht nur die Fans des Meisters auf ihre Kosten kommen, sondern auch viele seiner Hasser zu Liebhabern werden. Und das stimmt auch. Vielleicht liegt es daran, dass sich Houellebecq in diesem Buch selber sterben läßt, vielleicht aber auch daran, dass es ein wirklich sehr guter, gelungener Künstlerroman ist.

David Gilmour, Die perfekte Ordnung der Dinge (S. Fischer): Auch der Autor von „Unser allerbestes Jahr“ legt einen schönen – wie immer autobiographischen – Nachfolgeband vor. Ein Mann will sein Leben ordnen, fährt die Orte seiner größten Niederlagen ab und läßt seiner Erinnerung freien Lauf. Es ist nicht das schlechteste Gefühl, noch einmal davongekommen zu sein!

Es folgen zwei Bücher aus der Abteilung „Gut & Lustig“:

Gunnar Homann, All exclusive. Ein Unterwegsroman (DuMont): Der Erstling von Gunnar Homann, ein in Sachen Komik wirklich grandios zu nennender, TITANIC-geschulter Road-Movie, der vor allem eins macht: Lachen.

Sarah Schmidt, Bitte nicht freundlich (Verbrecher Verlag): Nicht jeder Text eines Lesebühnenautors / einer Lesebühnenautorin ist in Schriftform so gut wie auf der Bühne... Bei Sarah Schmidt schon! Ein ganzes Buch voll mit relevanten, sehr eigenen, wundervoll komischen Geschichten, von denen jede einzige es wert ist, erzählt und gelesen zu werden. Chapeau!

Und abschließend noch der Hinweis auf ein Buch, das es – weil die Welt schlecht ist – nicht mehr im Handel gibt. Beim Stöbern durch Antiquariate und im Netz wird man aber fündig. Und die Suche lohnt sich:

Michael Köhlmeier, Bevor Max kam (Piper): Der schönste Kaffeehaus-Roman überhaupt! Gescheiterte und geläuterte Existenzen, skurile Anekdoten, lakonische Dialoge, Tränen, Lachen, Leben. Wiener Schmäh vom Besten, man mag sofort hinfahren...


LITERATUR-TIPPS 2010

Christoph Simon, Spaziergänger Zbinden (Bilger-Verlag): Die Weltreise des 87jährigen Lukas Zbinden durchs Betagtenheim – was für ein wunderbarer Roman! Eine Hmyne aufs Spazierengehen, eine hinreißende Liebesgeschichte und mein Lieblingsbuch 2010!

Wolfgang Herrndorf, Tschick (Rowohlt): Ein grandios komisches und berührendes Road-Movie zweier 14jähriger durch die Provinz. Tom Sawyer und Huckleberry Finn leben! (Wichtig: Lest erst die Geschichte und dann das Blog!)

einzlkind, Harold (Edition Tiamat): Ja - ein Pseudonym, ja – das erste unverlangt eingesandte Manuskript in der Verlagsgeschichte, welches gedruckt wurde, und ja – das lustigste Buch des Jahres.

Garth Risk Hallberg, Ein Naturführer der amerikanischen Familie (Liebeskind): Was für ein Wurf: komisches Lexikon, tragischer Familienroman und großartiger Fotoband in einem. (Ich werde es zigmal verschenken, weil es so schön ist!)

Hermann Burger, Schilten (Nagel & Kimche): Endlich ist dieser verstörende, überfordernde, meisterhafte Roman aus dem Jahre 1978 wieder aufgelegt. Die beste Lehrer-Satire, die ich kenne und ja: ein Muss – auch wenn’s weh tut.

David Wagner, Vier Äpfel (Rowohlt): Das Leben ist ein Supermarkt – eine perfekte, scharfsinnige und ganz wunderbare Alltagsbeobachtung.

Roman Graf, Herr Blanc (Limmat): Man kann den „Herrn Blanc“ mögen oder nicht – vergessen wird man ihn nie wieder. Was eine schmerzhafte, anrührende und konzentrierte Geschichte!

Mariana Leky, Die Herrenausstatterin (Dumont): Ach wäre die Literatur doch immer so: Traurig, komisch, fantasievoll und geistreich. Ein ganz und gar wundervoller Liebesroman!

Desweiteren kann ich uneingeschränkt empfehlen, weil sie mich bei Lesen einfach nur glücklich gemacht haben:

Sibylle Berg, Der Mann schläft (Hanser)
Rose Tremain, Der weite Weg nach Hause
(Suhrkamp)
Katja Oskamp, Hellersdorfer Perle
(Eichborn)
Gerbrand Bakker, Oben ist es still
(Suhrkamp)
Kristof Magnusson, Das war ich nicht
(Kunstmann)
Franz Dobler, Letzte Stories
(Blumenbar)
Rolf Lappert, Nach Hause schwimmen
(dtv)
Stephan Thome, Grenzgang
(Suhrkamp)

 

LITERATUR-TIPPS 2009

Bov Bjerg, Deadline (Mitteldeutscher Verlag): Bov Bjerg kenne ich als großartigen Autor und Performer der Berliner Leseszene und sein erster Roman verdient es, schlicht und ergreifend sensationell genannt zu werden. Auf gerade mal 140 Seiten wird die Geschichte der „Gebrauchsanweisungsübersetzerin“ Paula erzählt, die sich in Leben und world wide web verliert, sich ihrer Entscheidungsunfähigkeit hingibt (und zwar um ein vielfaches glaubwürdiger als im hochgelobten „Unentschlossen“ von Benjamin Kunkel) und die überhaupt eine Heldin ist, wie sie bislang noch in keinem Buche stand. Für alle Blogger und Netz-Literatur-Liebhaber ist das Buch ohnehin ein Muss, aber auch allen anderen sei gesagt: selten hat ein Autor mit dem Verdikt „form follows function“ so ernst gemacht. Daneben ist „Deadline“ auch noch eine anrührende Liebesgeschichte, ein tragikomisches Road-Movie, eine tolle Familien-Skizze und überhaupt jetzt schon das beste Buch des Jahres (und des nächsten gleich mit).
Tilman Rammstedt, Der Kaiser von China (Dumont): Ja, Tilmann Rammstedt hat den Ingeborg-Bachmann-Preis verdient. Und die Kritiken haben auch recht: Man muss beim Lesen laut lachen! Diese „Lügengeschichte“ ist nicht nur gut geschrieben, sondern wirklich sehr, sehr lustig!
Michael Ebmeyer, Der Neuling (Kein & Aber): Auch Rammstedts Bühnenkollege bei FÖN, Michael Ebmeyer, hat einen neuen Roman geschrieben und es gelingt ihm, der alten Geschichte vom Aufbruch in ein neues Leben tatsächlich neue Seiten abzugewinnen. Ein scheuer Büromensch wird nach Sibirien geschickt, verliebt sich in eine schorische Sängerin und vergißt Stuttgart. Mehr kann man nicht verlangen.
Kjell Askildsen, Ein schöner Ort (Luchterhand): Endlich gibt es eine (vom Autor selbst zusammengestellte) Sammlung von Kurzgeschichten vom unbestrittenen skandinavischen Meister der Short-Story. Mein Gott, sind diese Erzählungen traurig! Einsamkeit, Enttäuschung, das Warten auf den Tod und die Suche nach dem Sinn - nie länger als 20 Seiten, oft schmerzhaft komisch, immer großartig!
Michael Stauffer, Soforthilfe (Roughradio bei Urs Engeler Editor): Juhu und Jippieh - vom Autor von „Haus gebaut, Kind gezeugt, Baum gepflanzt. So lebt ein Arschloch. Du bist ein Arschloch“ und „I promise when the sun comes up - I promise, i’ll be true. So sing Tom Waits. Ich will auch Sänger werden“ gibt’s was Neues. Und zwar ein schmales Bändchen, das als Ratgeber daherkommt und - wie immer bei Stauffer - brilliant und eigenwillig geschrieben, abgründig, schräg und schwarzhumorig ist. Was habe ich gelacht beim Lesen! (Noch besser ist es übrigens, sich diese Satzkaskaden vorlesen zu lassen, Michael Stauffer wird im November bei der SWR-POETENNACHT dabei sein und im Dezember das Freiburger „Vorderhaus“ besuchen.)
Rayk Wieland, Ich schlage vor, dass wir uns küssen (Kunstmann): So was kann man sich nicht ausdenken: Da bekommt Herr W. eine Einladung, auf dem Symposion für unterdrückte Dichter in der DDR aus seinem Werk zu lesen. Aber Herr W. war nie ein unterdrückter Dichter, er hat noch nicht mal gedichtet - wenn man von seiner pubertären Liebes-Lyrik absieht, mit der er seine Briefe an die geliebte (Brief-)Freundin aufpeppte. Doch genau um diese Lyrik geht’s - sie wäre zu Recht vergessen und verschollen, hätte die Stasi sie nicht akribisch gesammelt, aufbewahrt und interpretiert. Unfassbar: Da hat ein Geheimdienst nichts besseres zu tun, als die völlig harmlosen, schwülstig gereimten Liebesbeteuerungen eines Heranwachsenden über Jahre hinweg auf Staatsfeindlichkeit abzuklopfen - ein Staat der so etwas tut, geht aus gutem Grund unter.
Man hätte viel falsch machen bei der Literarisierung dieser wahren Geschichte; Rayk Wieland aber macht alles richtig und legt mit seinem ersten Roman ein hochnotkomisches, stilistisch einwandfreies Buch vor, das endlich einen Schlußstrich unter das „Das Leben der anderen“-Gedöns im „20 Jahre Wende“-Rausch zieht und die erbärmlichen Machenschaften der Stasi der Lächerlichlichkeit preisgibt.
Shalom Auslander, Eine Vorhaut klagt an (Berlin Verlag): Ein gottesfürchtiger Jude rechnet ab mit Gott - frappierend lehrreich, schockierend witzig und unglaublich unterhaltsam.
Erlend Loe, Ich bring mich um die Ecke (kiwi): Blöder deutscher Titel für ein schönes (Tagebuch-)Buch des norwegischen Spezialisten für skurrilen Humor; die 18jährige Julie versucht, sich umzubringen und schafft es einfach nicht. So was will man lesen!
David Gilmour, Unser allerbestes Jahr (S. Fischer): Die wahre und anrührende Geschichte eines Vaters, der seinem Sohn erlaubt, die Schule zu schmeißen, unter der Bedingung, dass sich die beiden gemeinsam drei Filme pro Woche ansehen. Newsweek schrieb: „Jeder, der Eltern oder Kind ist oder jemals im Kino war, wird dieses Buch lieben.“ Stimmt.
Anne Enright, Das Familientreffen (DVA): Ein schonungsloses, wütendes, zärtliches Buch über eine trauernde Familie, das zu Recht mit dem Booker-Preis geadelt wurde; und endlich mal eine trinkende und fluchende Heldin, die nicht mit den ausgelutschten Attributen der „Hysterie“ gezeichnet wird.
Ray French, Ab nach unten (dtv): Wer die Filme „The Full Monty“ oder „Brassed Off“ mochte, liegt mit diesem Roman richtig. Ein kleiner Werksarbeiter läßt sich in seinem Garten begraben, um gegen die Schließung seiner Produktionsstätte zu protestieren. Very british!
Markus Orths, Das Zimmermädchen (Schöffling & Co.): Der Autor war, wie er in einem Interview zugab, selber überrascht, dass viele Leser sein neues Buch als „oft komisch“ rezipierten. Dabei ist „Das Zimmermädchen“ das intensive Portrait einer obsessiven Frau, die sich unter die Betten der Hotelgäste legt, um herauszufinden, wie den Menschen gelingt, was ihr so schwerfällt - das Leben. Ein knapper, großartiger Roman, der einmal mehr beweist, das Markus Orths zu den besten jüngeren Schriftstellern dieses Landes gehört.
Andreas „Spider“ Krenzke“, Imbiss wie damals (Volant & Quist): Das neue Buch vom Berliner „Surfpoeten“ ist wie sein altes: Grandios! Fies, trocken, sehr lustig und mit beigelegter CD. Was will man mehr?
Und abschließend noch ein Dank: An Rotraut B., die mir nach einem Auftritt im hohen Norden „als Dank für die Büchertipps“, welche ich von Zeit zu Zeit an dieser Stelle gebe, ihr Lieblingsbuch schenkte.  Es heißt „Der Fliegenfänger“ (The wrong boy; Heyne Verlag), geschrieben hat es Willy Russell und jetzt ist es auch mein Lieblingsbuch. Wirklich - das ist ein todkomischer, tieftrauriger, ganzganzganz wunderbarer Roman und (nicht nur für Morrissey-Fans) eine absolute Pflichtlektüre.

© jess jochimsen